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Dobroshi

© Deutsche Kinemathek

Retrospektive: Belgische Hölle

Fünf Filme für ein Leben: Die Retrospektive der Dardenne-Brüder in Berlin. Immer geht's am Ende um eines: Du hast die Wahl.

Das Ende ist herzzerreißend. Mitten im belgischen Karneval, in diesem Wirbel aus Musik, Verkleidung, Volksfest und Trunkenheit, findet sich eine Familie wieder, und ein Kind strahlt so unendlich glücklich, dass die ganze Truppe lacht und Vater und Sohn mitzieht im Trubel allgemeiner Euphorie.

Das Ende ist auch deshalb so herzzerreißend, weil davor die Hölle lag. Eine selbst gemachte Hölle, aus der es keinen Ausweg gab. Der Fabrikarbeiter Fabrice, glücklicher Ehemann, stolzer Vater, ehrgeiziger Arbeiter in den Stahlwerken an der Maas, verliert seinen Job, und damit alles: Selbstwertgefühl, die Liebe zu seiner Frau, den Halt in der Familie und bei den Kollegen. Das Einfamilienhaus, das er gerade gebaut hat, als Zeichen des endgültigen Angekommenseins, muss verkauft werden. Dass seine schöne Ehefrau Celine arbeitet, um die Familie zu unterstützen, ist nur noch Anlass für Eifersucht und Minderwertigkeitsgefühle. Je mehr Fabrice seinen Halt verliert, desto mehr kehrt er seine schwarze Seite hervor: jähzornig, gewalttätig, antriebslos. Wie sehr Arbeit einen Menschen macht, und wie sehr ihr Verlust einen Menschen zerstört, das führten die belgischen Regiebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem frühen Spielfilm „Je pense à vous“ von 1992 gnadenlos vor.

Schon da war alles vorhanden, was die Dardennes in fünf folgenden Filmen, für die sie mit allen europäischen Preisen überhäuft wurden, zu immer neuer, wuchtiger Perfektion führten. Fabrices Jobverlust: Diese Angst vor der Selbstaufgabe steckt auch hinter der Verzweiflung, mit der das Mädchen Rosetta sich im gleichnamigen Spielfilm von 1999 an Tisch, Schränke und Stühle in der Fabrik klammert, als sie entlassen wird. Arbeit, das ist die Sicherheit, das Versprechen, nicht unterzugehen im Leben. Wer sie verliert, verliert sich selbst.

Die Verzweiflung eines haltlosen Lebens im postindustriellen Zeitalter treibt die Protagonisten der Dardennes in immer neue Überlebenskämpfe. Da werden illegale Arbeiter eingeschleust und ein Unfalltod auf der Baustelle vertuscht („La Promesse“, 1996), oder ein Junkie muss dran glauben, der nur geheiratet wurde, damit eine Albanerin die belgische Staatsbürgerschaft bekommen konnte („Le silence de Lorna“, 2008). Ja, selbst das eigene Kind kann verkauft werden, in dieser Welt ohne moralische Werte („L’enfant“, 2005). Und doch muss man nach der Katastrophe weiterleben, muss ein Weiterleben auch der Schuldige, der Täter akzeptieren können („Le fils“, 2002).

All das spielt in Belgien, sozusagen vor der Tür. Dieses Land, Kern-EU-Land, ist ein Land, in dem es ums Überleben geht, ein Land der Schlepper und Schleuser, Mörder und Betrüger, in dem es keine Gesetze zu geben scheint, keine Staatsmacht, ja kaum noch ein Dach über dem Kopf. Sie balancieren am Rande der Obdachlosigkeit, das Mädchen Rosetta, die in einem Trailerpark mit ihrer alkoholabhängigen Mutter lebt, oder das junge Pärchen Bruno und Sonia, die plötzlich ein Baby am Hals haben. Und auch die Wohnung, die die Albanerin Lorna in ihrer Scheinehe mit dem Junkie Claudy bewohnt, ist nur Durchgang, nur Kurzzeit-Absteige. Kommt es daher, dass die Menschen sich mit solcher Gier an das bisschen Geld klammern, das sie doch immer betrügt, Blutgeld in den meisten Fällen? Doch das Gefühl für Richtig oder Falsch, das verfliegt.

Wenn das Berliner Arsenal den belgischen Filmern nun eine Retrospektive widmet, ist das trotz der nur fünf Filme keineswegs verfrüht. Weil sie einerseits auch unzählige Dokumentarfilme gemacht haben, die das Sterben der Industrieregion rund um Lüttich dokumentieren, aus der die Dardennes stammen und der sie bis heute treu geblieben sind. Und weil andererseits diese fünf Filme in ihrer Geschlossenheit, in ihrer konsequenten Variation desselben Themas genug sind für ein ganzes Filmerleben. Oder für zwei.

Es sind immer die gleichen Elemente, aus denen die Filme der Dardennes gebaut sind, der gleiche Ort Seraing, die gleichen Schauspieler, darunter immer wieder die großartigen Olivier Gourmet und Jérémie Renier, die gleiche Kamera von Alain Marcoen, jenes bedrohlich-bedrängende Ganz-nah-Dranbleiben. Immer geht es, in dieser Welt voller Verzweiflung und Verrat, die doch so nah liegt, so bedrohlich nah, um die eine Frage: Du hast die Wahl. Egal, wie hoffnungslos das Leben ist, egal, wie weit unten in der Gosse du liegst, egal, ob noch Geld da ist oder eine Wohnung oder auch nur ein anderer Mensch, der an dich denkt. Wenn es hart auf hart kommt, in diesem einen Moment, wo entschieden werden muss zwischen Leben oder Tod, Gut oder Böse, dann hast du die Wahl. So einfach ist das. Es gibt nicht mehr.

Arsenal, 15. bis 30. 11.. Am heutigen Sonntag eröffnet die Retrospektive mit „La Promesse“ in Anwesenheit der beiden Dardennes. Am 18.11., 20 Uhr, findet ein Werkstattgespräch mit den Regisseuren statt. Programm: www.arsenal-berlin.de

Christina Tilmann

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