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Spielfilm: Die verlorene Liebe der Gudrun Ensslin

"Wer wenn nicht wir" oder die Urszene der RAF: Der Dokumentarist Andres Veiel dreht seinen ersten Spielfilm. Ein Setbesuch.

Am Suhrkamp-Stand gibt es Brecht, Hermann Broch und Roland Barthes‘ „Kritik und Wahrheit“, daneben ruft ein Plakat für „Dienstag 14 Uhr“ zur „Anti-Springer-Veranstaltung“ auf. Der Verlag „Neue Kritik“ zwei Stände weiter möchte sich gern von einem „Denkverlag“ in einen „sozialistischen Kampfverlag“ wandeln. Frankfurter Buchmesse, anno 1967. Allerorten volle Aschenbecher und leere Wodkaflaschen.

Zwischen Suhrkamp und dem Verlag, der statt sprechen und denken künftig lieber kämpfen möchte, steht ein schmaler Jungverleger in beiger Freizeitjacke: Bernward Vesper (August Diehl), Inhaber des jungen, aufstrebenden Voltaire-Verlags. Bernward – den nicht unvölkischen Namen hat er von seinem Vater, dem Nazidichter Will Vesper. Aber womit der Sohn jetzt noch etwas anfängerhaft sein Publikum konfrontiert, das beim Wort „Achtung Aufnahme!“ sofort angestrengt zu rauchen beginnt – alles andere wäre unecht –, ist etwas ganz anderes.

Inmitten der eleganten 60-Jahre-Leserinnen mit hohen Frisuren und Lidstrich steht irgendwie lauernd ein Mann im blauen Pullover. Das ist der Regisseur, Andres Veiel, der für seine Filme „Die Überlebenden“, „Black Box BRD“ oder „Die Spielwütigen“ viele Preise bekam. Und trotzdem wird dies hier ein Debüt.

„Wer wenn nicht wir“ ist Veiels erster Spielfilm. Sein Thema: die Gewalt und ihr Ursprung, wie in beinahe allen Veiel-Filmen. Und der deutsche Terrorismus. Aber nicht wie in „Black Box BRD“ dessen späte Szenen, sondern gleichsam die Urszene, die Ur-Urszene. Veiels Ziel: Korrektur dessen, was sich im kollektiven Gedächtnis verfestigt hat.

Die Dreharbeiten haben vor einem Monat in Tübingen begonnen. Dort hatte Bernward Vesper die junge Gudrun Ensslin 1962 kennengelernt. Es war Liebe auf den zweiten Blick. Die Verlobungsszene ist schon gedreht, unterm flugberuhigten Vulkanaschehimmel bei strahlendem Sonnenschein. Die Buchmesse von 1967 ist jetzt im Berliner Olympiaforum aufgebaut, Diehl-Vesper hält den Lesern noch immer das Buch entgegen: „… freue ich mich, euch die neue Flugschrift ‚Black Power – Ursachen des Guerillakampfs in den Vereinigten Staaten‘ vorstellen zu können. Carmichael begründet darin die Abkehr von der erfolglosen Strategie der Gewaltlosigkeit …“ Beifall. Ein Reporter mit Schlips tritt näher und fragt, ob er das richtig verstanden habe: „Sie rufen zum gewaltsamen Sturz unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung auf?“ Bernward, gelassen: „Das würde ich nicht so sehen.“

Carmichaels Übersetzerin Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) tritt jetzt zu ihrem künftigen Mann, sie besitzt nicht gerade die sanfte Ausstrahlung einer Verlobten. Sie wolle ihm sagen, warum dieser Carmichael so wichtig sei, beginnt sie ihre Ansprache an den Reporter. Veiel unterbricht: „Lena, mehr, das muss jetzt alles von dir kommen, du bist der Motor!“

Drehpause. Veiel über den BuchmessenKrach eines jungen Paares mit Kind: „Sie versteht nicht, wie man so distanziert sein kann.“ Wer sich noch distanzieren kann, ist noch nicht bereit zur Tat. Wer noch lesen kann, ist noch nicht bereit zur Tat.

Irgendwann, vielleicht bei der sechsten Wiederholung der Szene, sagt Diehl nicht „Abkehr von der erfolglosen Strategie der Gewaltlosigkeit“, sondern „Abkehr von der gewaltlosen Strategie der Erfolglosigkeit“. Ein kurzer Augenblick der Unkonzentriertheit, aber er trifft den Kern.

Ein Kreuzberger Café, Himmelfahrtsfrühstück. Für Veiel ist es ein Tag ohne Film, aber was heißt ohne Film? Er muss gleich in eine Schöneberger Wohnung, in Andreas Baaders Filmwohnung, dort treffen sich Gudrun Ensslin und Andreas Baader zum ersten Mal allein. „Wissen Sie, was Baaders Mutter gesagt hat, als sie von dem geplanten Anschlag auf das Frankfurter Kaufhaus erfuhr? Sie hat ihren Sohn nur gefragt: Bist du dafür alt genug? Bist du reif genug?“

Wahrscheinlich gab es nur wenige deutsche Eltern, die ihren Kindern solche Ermutigungen zusprachen. Das ändere die Perspektive, sagt Veiel. „Ich will die Bilderschleifen des sich selbst legitimierenden Archivmaterials stören.“ Die Rebellion der Kinder gegen ihre Nazieltern, das glauben viele bis heute. Als Baaders Vater Fronturlaub bekam, erfuhr er vom Ende der Weißen Rose und sagte: „Die sind weg, jetzt braucht es Menschen, die weitermachen!“ Er meinte sich selbst und ging doch zurück in den Krieg. „Baader und Ensslin verbindet, dass beide zu Ende bringen wollen, was ihre Eltern nur halb gemacht haben“, sagt Veiel. Das hieße, die Urgeschichte des deutschen Terrorismus neu schreiben. Auch stört ihn das Bild von Gudrun Ensslin als Medea der Revolution, die kalt ihr Kind preisgibt. Man müsse nur einmal in ihre Briefe schauen.

Am Anfang war ein Buch, Gerd Koenens kluge Tiefenforschung „Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus“. Eine Reise in die „noch unklare Gärung von Psyche und Intellekt“. Lies das !, sagte eine befreundete Redakteurin. Lieber nicht !, antwortete Veiel. Und dann kam alles, wie er es befürchtet hatte. Er brauchte neue Bücherregale, seine Wohnung war kaum noch begehbar, wegen der vielen Fotos auf dem Fußboden. Und er führte unzählige Interviews.

„Also hätte es doch wieder ein Dokumentarfilm werden können?“ Nein, diesmal wollte Veiel die Toten als Lebende. Diesmal sollten sie noch näher kommen. Im Übrigen, sagt Veiel, arbeite er nicht zum ersten Mal mit Schauspielern und dabei denkt er nicht nur an sein Doku-Theaterstück „Der Kick“ über den Mord von Potzlow. Noch als Psychologiestudent hatte er ein Praktikum im Tegeler Gefängnis gemacht und dort eine Theatergruppe aufgebaut. Die Häftlinge merkten schnell, dass ihr Regisseur eins nicht ausstehen konnte: Naturalismus. Überhöhung, Übersetzung – darauf kam ihm alles an. Genau wie jetzt, und Überhöhung schließt das Unterspielen ausdrücklich ein. Eben das will er jetzt mit Lena Lauzemis und Alexander Fehling proben; Fehling ist Baader.

Vielleicht ist Andres Veiel der Mann, der danach kommt. Als die Journalisten Potzlow nach dem Mord an Marinus Schöberl wieder verlassen hatten, kam er und es wurde ein Theaterstück draus. Er spürte, dass der Mord nur ein Stück Oberfläche ist, grausamste Oberfläche. Die Fremden im Ort, die Zugewanderten, Stigmatisierten, morden einen anderen Fremden, Zugewanderten, Stigmatisierten. Die Potzlower fassten Vertrauen zu Veiel, so entstanden noch ein Film und ein Buch. „Meine Filme sind Reisen ins Ursachengestrüpp. Es gibt nie nur eine Ursache.“ Vielleicht gibt es für Veiel deshalb auch nie nur eine Wahrheit. Und einfach sind diese Wahrheiten schon gar nicht.

Er mag es, einen Raum zu betreten, und dahinter öffnen sich neue Räume. So war es auch, als er vor Jahren den Raum „Vesper“ betrat. Dessen Buch „Die Reise“, das mit der Aufzeichnung eines 24-stündigen LSD-Trips beginnt, hatte ihn zugleich fasziniert und abgestoßen. Längst gilt „Die Reise“ als „Nachlass einer ganzen Generation“. „Was bedeutet es, Patient zu sein? Ich habe selten eine bessere Beschreibung gelesen“, sagt Veiel, der Diplompsychologe.

In der Buchmessenszene beginnt sich der gemeinsame Raum des Paars Ensslin/Vesper zu schließen. Am Ende des langen Drehnachmittags kommt Lena Lauzemis mit einem Baby – Felix, der gemeinsame Sohn – an den Stand des Voltaire-Verlages; gerade als der beschlipste Reporter seine Grundsatzfrage stellt. Gudrun Ensslin, rote Jacke, karierter Rock, hält ihre Predigt mit dem Säugling auf dem Arm: „Wenn Carmichael zur Gewalt aufruft, dann ist das nur eins: Notwehr!“ Der Reporter wehrt die Frau ab: „Ich führe das Interview mit Herrn Vesper!“ Der ist von so viel Grundsätzlichkeit seiner Verlobten unangenehm berührt. Er ist doch Verleger, er ist auch Autor, ja, Dichter, mein Gott, es geht doch um Bücher! – Es geht um Taten!, setzt jeder Blick seiner Frau dem entgegen.

Bis eben galt: „Solange es Felix gibt, gibt es uns!“ Sie wissen es beide noch nicht, aber es ist schon vorbei. Spätestens nach diesem Frankfurter Nachmittag. Zwei Jahre später, wieder zur Messe, wird Vesper den Vertrag für „Die Reise“ in der Tasche haben. Da ist die Frau seines Lebens und Mutter seines Sohnes längst im Untergrund.

Ensslins Vater sagte, bevor seine Tochter ging: Du sehnst den Faschismus ja herbei! Was ist, wenn er gar nicht kommt? „Für mich ist das eine Schlüsselszene“, erklärt Veiel, „da sind zwei, die haben einen Auftrag. Doch es ist ein Auftrag ohne historische Notwendigkeit. Es ist ein aus der Zeit gefallener Auftrag.“

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