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Kino: Süße Leere

Angela Schanelecs spröde-schöner Filmessay „Nachmittag“ sucht Tschechow im heutigen Berlin

So müde, warum nur sind alle so müde? Während draußen der schönste Sommer flimmert und lockt, legt sich lähmende Müdigkeit über die Menschen. Sie kauern am Fenster und lagern am See, dämmern im Bett oder auf dem Sofa. So überwältigend schön das Wetter draußen – die Menschen hat es nur müde gemacht.

Müde vom Leben oder vom Nichtmehrleben, vom Nochnichtleben oder Niemalsleben. Das Leben in allen möglichen Möglichkeitsformen führt Angela Schanelec in ihrem spröden, leuchtenden Filmessay „Nachmittag“ vor, der sich schon beim Forum der diesjährigen Berlinale Freunde und Feinde gemacht hat. Drei Tage im Spätsommer, in einer Villa an einem Potsdamer See, zwischen allen Protagonisten spinnen sich Fäden, so klebrig und unzerreißbar wie jene Altweibersommer-Gespinste, die bald schon in der Luft liegen werden. Etwas SchwülesUngesundes steckt in dieser erotischen Konstellation, die Schanelec von Tschechows „Möwe“ übernommen hat, ohne nur eine Zeile des Textes zu verwenden.

Doch die Atmosphäre ist die gleiche, jener lähmende Müßiggang, der in der modernen Intellektuellengruppe, die Schanelec porträtiert, offenbar ebenso zum Stil gehört wie bei Tschechows Landadel. Durch die extreme Langsamkeit, mit der Schanelec filmt, die Künstlichkeit der Dialoge, das lange Schweigen, die stillen Bilder bekommt der Film etwas Zeitloses. Gleichgültig, ob man Peter Steins „Sommergäste“, Schnitzlers „Das weite Land“, Resnais’ „Letztes Jahr in Marienbad“ oder eben Tschechows Sehnsuchtsdramen als Referenz ansieht – Schanelecs Nachmittagswelt ist so weit weg vom heutigen Berlin, dass die von den Regisseuren selbst so wenig geschätzte Zuordnung zur „Berliner Schule“ sich fast von selbst verbietet.

Die klassische Konstellation: eine nicht mehr ganz junge Schauspielerin, die man kaum einmal auf der Bühne sieht, nur in der Eingangsszene, drei Schriftsteller unterschiedlichen Alters, die eigentlich gar nicht mehr schreiben, und dazwischen ein junges Mädchen, das leben will, leben, aber unbedingt. Dieses Mädchen Agnes, eigentlich als Nebenfigur gedacht, wird durch die junge Schauspielerin Miriam Horwitz zur heimlichen Hauptfigur, mit ihrer noch kindlichen Rundlichkeit, der mädchenhaften Unfertigkeit ihrer Züge, und im Gesicht steckt schon viel Festigkeit, Entschlossenheit.

Sie ist die ideale Gegenspielerin für die weibliche Hauptfigur, jene kapriziöse Schauspielerin Irene, deren Rolle die Regisseurin selbst übernommen hat – immerhin war Schanelec, die mit dem Theaterregisseur Jürgen Gosch zusammenlebt und für ihn viele Stücke übersetzt hat, sieben Jahre Schauspielerin an der Schaubühne und anderen Theatern. Sie gibt dieser Irene mit ihrem schmalen, nervösen Gesicht und der mädchenhaft hellen Stimme eine spröde Kindlichkeit, neben der Miriam Horwitz so bodenständig wie reif wirkt – eine perfekte, wenn auch nicht unproblematische Konstellation.

Dagegen können die schriftstellernden Männer, der Langzeit-Lebenspartner Alex (Fritz Schediwy), der Kurzzeit-Geliebte Max (Mark Waschke) und Konstantin, der genialisch-verträumte und eifersüchtig die Mutter bewachende Sohn (Jirka Zett), nur antriebslos dahindämmern – selbst ein Ausflug nach Berlin zum Eisessen ist schon ein Riesenunternehmen, und die Entscheidung, welche Eissorte man wählen soll, schon zu viel verlangt. Ob am Ende der drei Tage der Tod steht, ein langer Schlaf oder das Ende des Sommers wie der Jugend – der Film lässt es offen, doch was immer es ist, es kommt auf leisen Sohlen. Und für einen Nachmittag stand die Zeit still.

In Berlin in den Kinos fsk am Oranienplatz und Hackesche Höfe

Christina Tilmann

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