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"Traisit": Der Bruder, der nach drüben ging

Angela Zumpe arbeitet in ihrem Dokumentarfilm "Transit" eine schizophrene deutsche Geschichte auf - und den Tod ihres Bruders.

Geh doch nach drüben, schallte es zu Mauerzeiten jungen Linken in den deutschen Westprovinzen entgegen. Einige taten das wirklich, nicht immer aus politischen Gründen. Im Jahr 1968 waren es fast zweieinhalbtausend BRDler, die die Grenze in Richtung Osten dauerhaft überquerten. Darunter war auch Reinhard Zumpe, der damals 21-jährige ältere Bruder der Filmemacherin Angela Zumpe – ein kämpferischer Idealist, der in der Rebellion gegen den autoritären Vater sozialistische Überzeugungen organisch mit Affinitäten zu Godard-Filmen und klassisch russischer Kultur zu verbinden wusste und 1967 mit der Familienurlaubskasse aus Berlin-Lankwitz zunächst nach Paris abhaute. 1968 stellte er den Übersiedlungsantrag in die DDR. Acht Monate später sprang er aus einem West-Berliner Fenster in den Tod. In der Familie ist der einzige Sohn seitdem ein Tabu.

Erst jetzt, nachdem beide Eltern gestorben sind, hat die kleine Schwester seiner Geschichte hinterhergespürt. Was war in den wenigen Monaten geschehen? Wurde Reinhard überhaupt von der DDR aufgenommen? Geriet er mit der Staatssicherheit in Konflikt? Bei einem jungen Linksradikalen war die intensive Zuwendung durch die Stasi immerhin hoch wahrscheinlich.

Angela Zumpe – bisher vor allem mit videokünstlerischen Arbeiten präsent – montiert ihre Spurensuche im Aufnahmeheim Saasa und verschiedenen Archiven mit den Erfahrungen zweier anderer Systemwechsler. Die eine ist die 1932 geborenen und 1963 aus dem australischen Exil nach Ost-Berlin zurückgekehrte Salomea Genin; als überzeugte Kommunistin war sie viele Jahre für die Staatssicherheit tätig. Die andere dagegen, Henriette Schulz-Molon, wurde zu Beginn der sechziger Jahre als Teenager von ihren Eltern in die DDR verbracht und floh 1974 mit ihrer Tochter nach West-Berlin; acht Jahre später wurde sie beim Antritt einer Griechenlandreise im Transit des Flughafens Schönefeld festgenommen. Eine kluge Frau, eine erschütternde Geschichte: Nur dass sie sich nicht so recht als Kontrastfigur zu den Fragen an Reinhard Zumpes Schicksal fügen will. Denn während die schwesterlichen Recherchen langsam ins Leere führen, wird deutlich, dass die sogenannte Demokratische Republik für den jungen Reinhard allenfalls als Projektionsfläche und Fluchtraum von Bedeutung war. Grundlage seines tragisch gescheiterten Lebens waren wohl weniger der biedere Realsozialismus als originär nachkriegsdeutsche Familienverstrickungen.

Naivität ist eine grundsätzlich produktive Forschungshaltung. Allerdings übertreibt es die Filmemacherin damit ein wenig, wenn sie erst nach fast einer Stunde zu der Erkenntnis kommt, dass „anscheinend Müßiggänger und Linksintellektuelle“ im Arbeiter- und Bauernstaat unerwünscht waren. Und auf die im Film gezeigten Archivbilder der Studentenbewegung ist zwei Jahre nach dem ausführlich begangenen Achtundsechziger-Jubiläum wohl kaum jemand mehr neugierig. Umso erschütternder sind die aus Super8Schnipseln gebauten fragmentarischen Einblicke in den elterlichen Lankwitzer Pfarrer-Lehrerinnen-Haushalt, wo der Pater familias sogar den Abschiedsbrief seines Sohnes an die Schwester vernichtet. So erscheint die DDR in „Transit“ bald vor allem als Ersatzspielort für ganz andere Traumata.

Seit Donnerstag im Babylon, Krokodil und Sputnik.

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