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Kinoeröffnung: Der Himmel über Jenin

Hoffnungsort Kino: Wie der deutsche Dokumentarfilmer Marcus Vetter im Westjordanland den Terror bekämpft.

Die schwere Eingangstür aus Metall ist das Tor zu einer anderen Welt. Draußen gleißende Sonne, hupende Wagen, Müll und Staub. Drinnen ein samtschwarzer Raum, gedämpfte Hammerschläge, konzentrierte Geschäftigkeit. Wer in der Hauptstraße Jenins im Westjordanland über die Schwelle hineingeht ins frisch renovierte Kino der Stadt, fühlt sich, als beträte er das Holodeck auf der Enterprise.

Niemand in Jenin hatte gedacht, dass das alte Kino in der konfliktgeplagten Stadt wieder eröffnen würde. Zu Beginn vermutlich nicht einmal Marcus Vetter selbst, der Filmemacher, dessen Enthusiasmus alles ins Rollen brachte. Doch nun ist es soweit. Nach mehr als 20 Jahren Agonie laufen auf der Kinoleinwand wieder Filme. Mehr noch: Aus dem leer stehenden Betonbunker, voller Schutt und Taubenmist, ist ein beachtlicher Kulturbetrieb geworden, der Hoffnung weckt, wo lange Zeit nur Terror war.

Marcus Vetter, der Dokumentarfilmer aus Deutschland, sitzt im Gästehaus, nicht weit vom Kino. Jenin galt bislang nicht gerade als Tourismusziel, sondern als Hochburg des bewaffneten Widerstands der Palästinenser. Rund ein Drittel der Selbstmordattentäter kam während der zweiten Intifada aus Jenin. Immer wieder rückten israelische Soldaten in die Stadt vor, um nach Terroristen zu suchen – zuletzt 2002 mit einer massiven Bodenoffensive. Bis heute gilt die Stadt als gefährlich.

Vetter will, dass die Leute nach Jenin kommen und sehen, dass sich hier etwas verändert hat. Vor allem der palästinensische Ministerpräsident Salam Fayyad habe durch seine Politik der Entwaffnung und der Korruptionsbekämpfung zur Beruhigung der Lage beigetragen, sagt Vetter. Das Kino soll zeigen: Aus Jenin kann auch etwas Gutes kommen, nicht immer nur Tod und Terror. Überall in den Palästinensergebieten sind Kulturinstitutionen mit ähnlichem Ziel entstanden – etwa die palästinensische Zirkusschule, die Schauspielschule in Ramallah oder das Freedom Theater in Jenin. Sie alle wollen den Kreislauf der Gewalt im Nahen Osten durchbrechen und denen Würde und Stolz zurückgeben, die sich als Unterdrückte sehen.

Die Geschichte des Cinema Jenin begann mit einer ungewöhnlichen Entscheidung: Als Ismael Khatibs 11-jähriger Sohn Ahmed 2005 von israelischen Soldaten in Jenin erschossen wird, weil er ein Spielzeuggewehr trägt, spendet der Palästinenser die Organe seines Kindes an israelische Kinder und rettet damit Leben. Eine mutige und menschliche Geste, die in Israel für Verwirrung sorgt. Vetter ist davon so berührt, dass er beschließt, einen Dokumentarfilm zu drehen. „Das Herz von Jenin“ wird 2010 unter anderem mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet. Doch die vom Krieg zwischen Israelis und Palästinensern schwer gezeichnete Stadt lässt Vetter nicht los. Die Arbeitslosigkeit in Jenin ist hoch. Die Armut ebenfalls. Und Orte, die den Palästinensern Zerstreuung bieten, gibt es kaum.

1987, mit Beginn der ersten Intifada, wurde das Kino geschlossen. Doch bereits zuvor ging es mit der Kultur in Jenin bergab. Vor der Schließung liefen im ehemals größten Kino des Westjordanlands nur noch Pornofilme. Als dann während der Intifada israelische Soldaten regelmäßig zum Kino kamen, um die jungen Männer zu kontrollieren, war es mit den Vorstellungen endgültig vorbei.

„Es hat mich immer gestört, dass ich den Menschen, mit denen ich einen Film gedreht habe, nichts zurückgeben konnte“, sagt Vetter heute. Ein Dokumentarfilm könne zwar auf Leid und Ungerechtigkeit aufmerksam machen. Aber die Energie eines Films allein verändere die realen Verhältnissen nicht. Also fasste er – zusammen mit Ismael Kathib, dem Vater des erschossenen Jungen – den Entschluss, das Filmtheater wieder aufzubauen. Etwa fünfzig Freiwillige sind gekommen, um gegen Kost und Logis beim Aufbau zu helfen. Die Deutschen sind Studenten oder ohnehin auf Weltreise unterwegs. Die Palästinenser sind die Jungs aus der Stadt und dem nahen Flüchtlingslager, die früher Steine auf die Israelis warfen.

Fakhri Hamad, der als Dolmetscher der Filmcrew begann und nun als palästinensischer Manager des Kinos arbeitet, ist sich sicher: Das Kino, die fremden Gäste und die internationalen Filme werden die Gesellschaft in Jenin öffnen. Filme aus aller Welt will er zeigen – auch solche, die von Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Unmut handeln und neue Ideen und Wünsche wecken. Vor allem geht es um kreative, gewaltfreie Wege des Widerstands gegen die israelische Besatzung. Denn Kino ist Imagination, und wo die Menschen zu träumen beginnen, kann auch etwas Neues entstehen.

„Die Kinder hier wissen gar nichts über die Israelis“, sagt Hamad. Für die jüngere Generation existieren sie ausschließlich als Soldaten. „Wenn unsere Jugendlichen aber andere, linke Israelis kennenlernen, die ebenfalls gegen die Besatzungspolitik sind, dann wird es sehr schwer für die palästinensischen Parteien werden, sie davon zu überzeugen, ihre Freunde in Tel Aviv in die Luft zu sprengen.“ Deshalb hoffen die Veranstalter besonders auf israelische Gäste. Der Direktor der Tel Aviver Cinemathek, des dortigen Programmkinos, hat sich bereits angesagt. Damit machen sich die Veranstalter allerdings Feinde unter den Palästinensern. Das Kino unterbreche den palästinensischen Boykott Israels, man kollaboriere mit dem Feind, spiele der Normalisierung der Besatzung in die Hände, sagen die Kritiker. Manager Hamad hat dafür nur ein Schulterzucken übrig.

Insgesamt 950 000 Euro Spendengeld hat Vetter gesammelt. Dazu modernste Filmvorführmaschinen und Produktionstechnik. Das Auswärtige Amt beteiligte sich großzügig. Roger Waters, Mitbegründer von Pink Floyd, gab 150 000 Euro dazu. Je mehr Preise Vetters Film „Das Herz von Jenin“ gewann, desto mehr Geld kam zusammen. Über das Kino hinaus ist ein Kulturbetrieb entstanden, der nicht nur in der Lage ist, 3D-Filme zu zeigen, sondern in dem auch Filme produziert und synchronisiert werden können.

„Das Kino soll sich selbst tragen, statt von Spenden zu leben“, sagt Vetter und stapft über den Rasen im Hinterhof des Kinos, wo weitere 700 Besucher Platz finden, um Filme im Freien zu sehen. Mit dem günstigen Eintrittspreis von umgerechnet rund einem Euro ist das nicht möglich. Teurer machen wollte Vetter das Kino dennoch nicht. Alle Einwohner Jenins sollen sich das Kino und die dazugehörige Cafeteria leisten können. Es soll ein Versammlungsort werden, gerade auch für Frauen, für die es bislang in der Stadt keinen öffentlichen Ort gibt – und er will Ausbildungsplätze für gelangweilte und frustrierte Jugendliche schaffen. In einem Workshop haben palästinensische Jugendliche und deutsche Freiwillige bereits einige Werbespots für das Kino gedreht. Bald sollen Betriebe im Westjordanland Aufträge für die Produktion von Werbefilmen vergeben, die dann vor dem jeweiligen Hauptfilm laufen.

Und Ismael Kathib? Er sitzt im Büro des Kinder- und Jugendzentrums, das er seit einigen Jahren mithilfe von Spendengeldern aus Italien betreibt. „Durch das Kino habe ich das Gefühl, dass mein Sohn noch am Leben ist“, sagt er. „Das Lachen von Achmeds Freunden bei der Eröffnung wird mir zeigen, dass er durch das Kino weiterlebt.“

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