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Klangkünstlerin Susan Philipsz: Die Lücken und die Stille

Die Klangkünstlerin Susan Philipsz modelliert Skulpturen aus Musik: eine Hommage an Hanns Eisler.

Susan Philipsz setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Beinahe zaghaft tastet sie sich in der Historischen Halle des Hamburger Bahnhofs voran, als könnte ein falscher Schritt die ganze Installation zum Einsturz bringen. Dabei ist die Halle, die Philipsz durchschreitet, leer geräumt. Keine Statue, kein Gemälde findet sich zwischen den Stahlsäulen der ehemaligen Abfahrtshalle. Dennoch sorgt sich Philipsz, wiegt ihren Kopf, geht auf und ab. Was die Künstlerin wahrnimmt, sind Töne, ihre Töne. Die in Berlin lebende Schottin entwirft Klangarbeiten. Ab heute wird sie ihre erste Berliner Einzelausstellung im Hamburger Bahnhof präsentieren: „Part File Score“.

„Part File Score“ nähert sich dem jüdischen Komponisten Hanns Eisler. Der Musiker lebte seit den zwanziger Jahren in Berlin. 1933 musste er emigrieren. 1938 kam er – über Österreich, Dänemark, Spanien – in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er vom FBI als Kommunist verfolgt.

Philipsz inszeniert dieses Leben zwischen Abreise und Ankunft im ehemaligen Bahnhof mit einer 24-Kanal-Soundinstallation. Aus je zwölf Lautsprechern entlang der zwei Säulenreihen erklingen nacheinander drei Filmmusiken Eislers. Jeder Ton ist einem Lautsprecher zugeordnet. Ertönt ein Stück, wandert sein Klang durch die gesamte Halle. Mal wirkt es, als antworteten die Ecken einander, mal erwecken Pausen die Illusion, die Musik verliere sich im Raum. Philipsz hat die Stücke aufgebrochen und auf einzelne Instrumente reduziert: eine Violine, ein Cello, eine Trompete und ein Klavier. Alle Klänge hat sie in ihrem Atelier selbst eingespielt und dabei verschiedene Noten ausgelassen.

Das korrespondiert mit Bildern, die Philipsz an den Hallenwänden präsentiert: Eislers Partituren – überlagert von FBI-Akten, die seinen Alltag in Amerika protokollieren. Sein Reisepass ist da zu sehen – und wann er New York besuchte. Viele Passagen wurden geschwärzt. Diese Lücken korrespondieren mit den fehlenden Noten, sie werden zu zarten Hinweisen der Inszenierung.

„Ein Klang kann tiefe Emotionen hervorrufen“, sagt Philipsz, „schon durch ein feines Geräusch können längst verblasste Erinnerungen wieder auftauchen.“ Dies will die 48-Jährige provozieren. Ihre Kunst soll nicht bloß im Kopf des Betrachters – besser: Zuhörers – verarbeitet werden, sie soll dort entstehen. Musik wird zur Skulptur.

Philipsz, die Kunst in Belfast studierte, beginnt ihre Arbeit immer mit der Suche nach einem Ort, der Geschichte erzählt. Das kann die Unterführung einer Brücke sein oder eben ein stillgelegter Bahnhof. In ihrem Kopf entstünden dann Räume zwischen den Räumen, Klangräume: „Ich stelle mir vor, welche Musik an dieser Stelle etwas Neues erzählen kann.“

Dieses Talent zur Imagination brachte Susan Philipsz 2010 den Turner-Preis ein. Mit der renommierten Auszeichnung ehrt die Londoner Tate Gallery jährlich einen britischen Künstler. Kritiker sahen in der Vergabe an die „Musikerin“ Philipsz einen Affront – das Gros der Kunstszene lobte jedoch die „Bildhauerin“ Philipsz, die Skulpturen mit Mikrofon und Klavier modelliert.

Seit 2001 lebt Philipsz in Berlin. Die deutsche Hauptstadt habe einen „ganz eigenen Sound“, sagt sie. In Mitte sei er zwar laut und brausend, aber doch an vielen Orten im Stadtgebiet ruhig, in sich gekehrt, von fernem Vogelzwitschern durchzogen. „Ich empfinde Stille als eines der schönsten Geräusche“, sagt Philipsz, „und Berlin hat viel Stille.“

Die Künstlerin unterhält ein Atelier im Kulturhaus Schöneberg. Wer sie dort besucht, durchwandert drei Etagen voller Klänge, bevor er in Philipszs Studio unter dem Dach ankommt. Im Erdgeschoss musiziert eine chinesische Schulgruppe, im zweiten Stock tropft ein Wasserhahn auf dem Flur. Im Atelier selbst herrscht Stille, die Geräusche reduzieren sich mit jedem Stock. Philipsz hat eine Hälfte des Studios mit Stoffbahnen verhängt, dahinter steht ihr Mikrofon. Was die Künstlerin hier aufnimmt, seziert sie im Anschluss am Rechner. Sechs Lautsprecher, im Raum verteilt, tragen dann die Töne in die Luft – alle Klangräume, die Philipsz auf Ausstellungen erschafft, werden hier zum ersten Mal errichtet.

„Part File Score“ im Hamburger Bahnhof ist der Abschluss einer Trilogie. Die ersten beiden Stücke, „Study for Strings“ und „The Missing String“, schuf Philipsz 2012 für die Documenta und 2013 für die Kunstsammlung K21 in Düsseldorf. Alle drei Werke thematisieren das Leben im Nationalsozialismus und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

In „Study for Strings“ spielt Philipsz ein Streichorchester ein, das der tschechische Komponist Pavel Haas 1941 in Theresienstadt gründete. Philipsz lässt nur Viola und Cello erklingen, der Rest des Orchesters verharrt in Stille. Zu hören waren die Klänge über den Gleisen des Kasseler Stadtbahnhofs. Auch „The Missing String“ arbeitet mit Auslassungen. Philipsz spielte Richard Strauss’ „Metamorphosen“ auf einem Cello ein, dem eine Saite fehlt. „Das kaputte Instrument wird zum Symbol für Zwist und Uneinigkeit“, sagt Philipsz.

Auch die dritte Arbeit „Part File Score“ lebt von den Lücken in der Musik. Mit jedem Ton aus den Kompositionen Hanns Eislers entstehen Szenen in der riesigen historischen Halle des Hamburger Bahnhofs. Sie wirkt umso leerer, wenn ein Ton ausbleibt. „Ein Gefühl der Deplatziertheit entsteht“, sagt Philipsz. Es ist ihre Art, sich mit ihrer Wahlheimat Berlin auseinanderzusetzen.

Hamburger Bahnhof, vom 31.1. bis 4.5., Di/Mi/Fr 10-18, Do 10-20, Sa/So 11-18 Uhr - Eröffnung: 31.1., 20 Uhr

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