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Kultur: Klare Luft

Der schwedische Dichter Lars Gustafsson wird 70

Anfang der sechziger Jahre begann Lars Gustafsson mit dem Gedicht noch einmal von vorn. Auf einer der damaligen Fotografien sieht er aus wie der frühe Ludwig Wittgenstein. Gustafsson hatte dessen Sprachphilosophie ebenso genau studiert wie die neuesten Theorien aus Mathematik oder Physik. Die Lyriker, schrieb er damals, müssten sich „den metaphysischen Schlaf aus den Augen reiben“. Keine Rätsel, kein Geheimnis dürfe man den Worten lassen. Wenig später traf sich der schwedische Dichter mit einigen Kollegen, um den Unterschied zwischen Lyrik und Prosa zu diskutieren. Es muss einer jener Winter gewesen sein, wie sie in seinen Gedichten vorkommen: „Dezember war immer ein Monat, / in dem man eigentlich aufhörte zu sein. / Man wurde eine Parenthese im Dunkel, / mehr nicht.“ Fast mechanisch fielen die Argumente, und es blieb kaum etwas außer einigen kleinen, kalten Begriffen.

Fortan sollte Gustafsson in seinen Essays die Poesie immer wieder als ein Medium der Erkenntnis bestimmen, das anders arbeitet als die Wissenschaft. Wo diese sich an eine feste Terminologie hält, kann die Dichtung für einen Augenblick die normale Leimung zwischen Wort und Begriff lösen. So zeigt sie die Fugen der Welt auf, macht die Sprache wieder flüssig. Und es ist gerade dieses Schwebende, noch nicht Entschiedene, das Gustafsson in seinen Romanen und Gedichten kultiviert: „An der Oberfläche, in der Brechung der Wasserfläche, nur dort, / im haarfeinen Übergang zwischen Luft und Wasser. // Und somit in einer Schicht, die sich durchqueren läßt, / in der jedoch niemand bleiben kann. // An dieser Oberfläche, glitzernd und nicht vorhanden, / da müßt ihr suchen.“

Der gelassene Blick auf die Verwerfungen des Denkens brachte Lars Gustafsson den Vorwurf postmoderner Spielerei ein. Doch wer als Philosophieprofessor in den USA lehrt und also tagein, tagaus mit den Geschichten des Geistes zu schaffen hat, kann all den Gestalten zwischen Descartes und Wittgenstein wohl nur mit sanfter Ironie begegnen. Ohnehin scheinen seine letzten Romane in eine andere Richtung zu weisen. In ihrer kalkulierten Einfachheit wirken diese Texte angenehm karg. Und mit ihrem nüchternen Ton erreichen sie bisweilen jene wunderbare Durchsichtigkeit, von der auch seine Gedichte leben: „Es ist als träten sie für einen Augenblick / in eine klarere Luftschicht ein.“ Heute feiert dieser kühle Kopf seinen 70. Geburtstag.

Nico Bleutge

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