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Kultur: Klassenkampf für Kleinanleger

Saisoneröffnung am Berliner Ensemble: Claus Peymann inszeniert Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“

An der Börse kommt alles aufs Timing an. Das zumindest verbindet die Kunst der Geldanlage mit dem Theater: Nicht nur der einzelne Auftritt, auch die Frage, welches Stück die Investition von Probenarbeit, Talent und Geld verdient, hängt vom passenden Moment ab. Die Brecht-Hausse der letzten Saison zum Beispiel war ohne das, was Börsianer das gesamtgesellschaftliche Umfeld nennen, nicht denkbar. Peter Zadek inszenierte am Deutschen Theater „Mutter Courage“ – und das Antikriegs-Stück wirkte plötzlich wie ein etwas naiver Kommentar auf die neuen Kriege. Am Berliner Ensemble reanimierte Claus Peymann „Die Mutter“ als Klassenkampf-Märchen – wer wollte, konnte darin eine pathetische Reaktion auf die neuen Verteilungskämpfe entdecken.

Jetzt investiert Peymann noch einmal in die Aktie Brecht – und beschert uns Kleinanlegern im Zuschauerraum mit der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ eine etwas andere Kapitalschulung: Am Ende des dreieinhalbstündigen Abends dürfte selbst am Börsengeschehen eher wenig interessierten Zuschauern klar geworden sein, wie ein Warentermingeschäft funktioniert. Das Stück, geschrieben zwischen 1929 und ’31, ist Brechts Versuch, die Weltwirtschaftkrise samt Überproduktionszyklen und spekulativen Blasen an der Börse auf dem Theater zu verhandeln.

Gleichzeitig will Brecht aber auch den Humanismus eines naiven Gutmenschentums mit klassenkämpferischer Schärfe demontieren. Was der Zuschauer lernen soll, lernt auf der Bühne stellvertretend ein Mädchen, so unschuldig wie fähig, sich schockieren zu lassen. Beim „Gang in die Tiefe“ der Schlachthöfe von Chicago wird aus der Heilsarmee-Schwester Johanna eine Verzweifelte: erst abgestoßen von der Verrohung der Armen, dann erschüttert von der Brutalität der Verhältnisse. Peymann nimmt den Leidens- und Lernprozess ernst und dämpft ihn nicht mit ironisch-distanzierender Brechung der Klassenkampf-Parolen. Das sorgt für holzschnittartig harte Schablonen in der Weltsicht: „Die aber unten sind, werden unten gehalten, damit die oben sind, oben bleiben. Und der Oberen Niedrigkeit ist ohne Maß.“

Dass solch gemütliche Dogmatik nicht ins Peinliche und den Salonkommunismus des reichen Subventionstheaters abrutscht, liegt nicht zuletzt an Meike Droste, die der Johanna Strahlkraft und eine von Zynismus oder klebrigem Sentiment freie Empfindlichkeit verleiht. Ihre Naivität ist unverstellt, ihre Empörung ist klar, direkt und bewegend. Nur in wenigen Momenten gleitet sie in eine in die eigene Entrüstung verliebte Eitelkeit ab. Hier sieht man eine Schauspielerin, deren Spiel sich nicht in routiniert wirkungssicheren Effekten, in hübschen oder gefällig komischen Äußerlichkeiten erschöpft. Peymann, seit langem eher ein hochprofessioneller Arrangeur als ein zum Kern der Figuren vordringender Regisseur, hat hier mit einer jungen, hochbegabten Schauspielerin einer Figur Kontur und Insistenz verliehen.

Droste gelingt ein atemberaubender Balance-Akt: Sie verkörpert eine radikal moralische Position, ohne ins selbstgefällige Moralisieren zu rutschen. Sie zeigt eine Figur, die entdeckt, dass sie in einer grauenvollen Welt lebt, ohne dass sich ihr Spiel in gefällige Protest-Posen retten müsste. Drostes Johanna stürzt aus der Welt, bricht mit allen Gewissheiten und zerbricht daran. Und leuchtet dabei. Egal, was um sie herum an grellem Jahrmarktstheater arrangiert sein mag, sie ist das Zentrum, der Kern der Inszenierung.

Der Kontrast zwischen Meike Drostes Johanna und der Bühnenwelt, durch die sie sich bewegt, könnte nicht größer sein – und er soll so groß sein. Peymanns Bühnenbildner Achim Freyer hat die Gesichter aller anderen Figuren mit Schminke verspachtelt, lauter weiß geschminkte, rotbackige Clowns in typisierenden Kostümen, die die Figuren in klar sortierte Gruppen ordnen: Die Arbeiter in abgenutzten Anzügen, die Spekulanten in grell bemalten Business-Dreiteilern und die Viehzüchter mit grünen Ohren und Gummistiefeln – so wird Brechts berühmter „sozialer Gestus“ zur operettenbunten Typen-Klamotte. Einzig Herr Mauler, der Fleisch-Spekulant, der sich in Johanna verliebt (oder in ihre Unschuld), gewinnt individuelle Kontur. Manfred Karge spielt ihn als Genießer mit mokant spitzem Lächeln. Er kostet seine Gerissenheit bei den Börsengeschäften mit gleicher ironischer Distanz aus wie seine Momente von Weltekel und Hingerissensein von der jungen Johanna.

Unter Gesichtspunkten der Zeitgenossenschaft ist es ein merkwürdig zweischneidiger Abend. Einerseits vernimmt man, bei der Travestie der Schlachten auf dem Börsenparkett, einen böse-lustigen Kommentar zum Aktien-Hype der letzten Jahre – mit einem Klagechor der Kleinanleger. Andererseits ist das revolutionäre Pathos, wie es nur in der Historisierung zu ertragen ist, ein denkbar gegenwartsfernes Fundstück aus dem ideologiesüchtigen 20. Jahrhundert. Ein Börsenspekulant, der angesichts des Elends der Welt in Depressionen fällt und den Untergang seiner Klasse herbeiträumt, hat heutzutage etwas Bizarres – erst recht, wenn er von einem überschminkten Manfred Karge gespielt wird: „Nur mit Kauf und Verkauf, mit kaltem Hautabziehn von Mensch zu Mensch kann es nicht gehen; es sind zu viele, die vor Jammer brüllen; und es werden mehr.“

Die siebzig Jahre alte Prophezeiung, der Kapitalismus werde sich selbst zerstören, bedient heute vor allem den Wunsch, einer komplizierten Welt mit simplen Erklärungsmustern beizukommen. So fällt der Abend auseinander – in Revolutionskitsch und Börsen-Karneval, in Oberflächenreize und in Meike Drostes Johanna. Und die leuchtet.

Weitere Aufführungen heute sowie am 12. und 13. September .

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