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Alles im Blick. Herbert von Karajan dirigiert Beethovens 9. Sinfonie.

© Archiv Berliner Philharmoniker

Digitalisierung des Schierse-Konzertführers: Der Saal ist geheizt

Es ist ein historischer Schatz aus dem Klassikleben: der Schierse-Konzertführer. Nun ist er digitalisiert worden.

„Seit 1920 ist der Führer durch die Konzertsäle der Spiegel des Berliner Musikgeschehens!" Der Werbespruch war nicht übertrieben. Denn wann immer man die Philharmonie betrat, bekam man das Gratis-Heftchen in die Hand gedrückt. Und zwar nicht draußen vor der Tür, wo die kommerziellen Veranstalter ihre Flyer verteilen, sondern drinnen, hinter der Kartenkontrolle im Foyer. Weil es sich ja um ein unparteiisches Printprodukt handelte, nicht herausgegeben von einer Kulturinstitution, sondern von der Schierse-Stiftung, als neutrale Plattform, auf der sich per Anzeige jeder präsentieren konnte, der in dieser Stadt öffentlich Musik macht. 92 Jahrgänge erlebte das Annoncenblatt, bis es im Dezember 2011 eingestellt wurde, überflüssig geworden durch die Dominanz des Internets.

Der Schierse-Konzertführer digital - eine echte Pioniertat

Jetzt aber ist der Konzertführer auferstanden, als Online-Version, für jedermann zugänglich über die Website des Staatlichen Instituts für Musikforschung. Im Schatten der Philharmonie verrichten die Musikwissenschaftler ihre Arbeit, in jenem Flügel des Scharounschen Gebäudekomplexes, der 1984 fertiggestellt wurde, drei Jahre vor dem Kammermusiksaal, und in dem sich auch das Musikinstrumentenmuseum befindet. Wer die Konzertsäle durch den Eingang betritt, der dem Potsdamer Platz zugewandt ist, kann rechter Hand hinter dem Parkplatz den versteckt unter einer Durchfahrt liegenden Institutseingang entdecken. Im ersten Stock gibt es eine bestens bestückte Bibliothek mit herrlichem Panoramablick über das Kulturforum, in den dahinter liegenden Büros wird geforscht. Die Geschichte der musikalischen Interpretation bildet einen Schwerpunkt, die bibliothekarische Erfassung von Fachpublikationen einen anderen. Und auf diesem Gebiet ist mit der Erschließung des Schierse-Konzertführers nun eine echte Pioniertat gelungen, finanziell ermöglicht zuerst vom Staatsminister für Kultur und Medien, derzeit durch Gelder aus einem privaten Nachlass.

Mit der Geduld der Wissenschaftlerin hat Julia Heimerdinger die Digitalisierung der 1900 Heftchen mit 250 000 Konzertanzeigen vorangetrieben, anschließend bereiteten Computerspezialisten die Daten so auf, dass jetzt eine Detailsuche nach konkreten Interpreten und Komponisten, nach Aufführungsorten und -tagen möglich ist.

Der Schierse-Konzertführer war sofort ein Erfolg

Man muss weder Musikologe sein noch Narziss, um beim Blick in diesen Spiegel des Klassiklebens süchtig zu werden. Nur zu gerne gibt man angesichts dieses historischen Schatzes der Lust am Stöbern nach. Gleich im allerersten Heft ist der Begründer vertreten: Am Montag, den 20. September 1920 musiziert der Bariton Gotthard Schierse im Saal der Singakademie, zusammen mit dem Pianisten Claudio Arrau, „zum besten einer Ernst von Wolzogen-Spende“. Mit einer Auflage von 35 000 Stück startete der Künstler sein Projekt, das den Hauptstädtern einen Überblick über das lokale Kulturangebot bieten wollte.

Seit der Reichsgründung boomte Berlin, nicht nur auf dem Bausektor. „Wehe dem kühnen Schwimmer, der sich unberaten in die Wogen unseres Konzertlebens stürzt“, schrieb damals der Kritiker Siegmund Pisling, „er wird bald ermattet dem Ufer zustreben!“ Hier setzte Schierse an – und auch die Veranstalter machten sofort mit bei der neuen Reklameplattform.

Auf dem Höhepunkt seiner Erfolgswelle bringt Gotthard Schierse parallel eine Berliner Bühnenvorschau heraus sowie Konzertführer in diversen anderen deutschen Städten. Zum Klassiker aber wurde nur das Berliner Klassik-Format. Allen Unsterblichen kann man nun in der Online-Version wieder begegnen – Wilhelm Furtwängler bringt es auf 345 Treffer, Karajan auf 921 –, aber auch den fast Vergessenen. Wie Peter Ronnefeld, der 1950 aus Dresden nach Berlin kam, um bei Boris Blacher Komposition zu studieren, bald aber auch als begabtester Dirigent seiner Generation gehandelt wurde. Im Januar 1954 wird im Schierse-Konzertführer eine Ronnefeld- Uraufführung im Hochschulsaal angekündigt, im September 1963 darf er am Pult des Philharmonischen Orchesters debütieren, im Februar und Mai 1965 leitet er Konzerte mit dem Radio-Symphonie-Orchester. Kurz danach ist er tot, gestorben an Krebs, mit 30 Jahren. Vier Jahre nach Ronnefelds tragischem Ende taucht sein Name ein letztes Mal auf, unter den Komponisten, die Edith Urbanczyk bei einem Liederabend interpretiert.

Berühmte Klassiktempel und unbekannte Säle

Die Personen-Recherche funktioniert am besten, wenn man auf der Website den gewünschten Namen in das weiße Feld unterhalb der Kategorie „Suche in allen Sammlungen“ einträgt und dann auf das Lupen- Symbol klickt. Will man in die Geschichte abtauchen, lassen sich über die „Stöbern“-Funktion einzelne Jahrgänge anwählen. Der Hinweis „Der Saal ist geheizt“ dürfte im Dezember 1947 eine wichtige Entscheidungshilfe gewesen sein. Dass in den Annoncen der Philharmoniker Herbert von Karajans Name grundsätzlich in größerer Schrift erscheint als der anderer Maestri, verwundert kaum. Wirklich staunen kann man dagegen über die Vielzahl der Veranstaltungsorte vergangener Zeiten. Da gibt es 1929 in der Köthener Straße neben dem heute noch existenten, aber nicht bespielten Meistersaal den Beethoven-Saal, da findet man in der Linkstraße 42 den Bachsteinsaal, und die Hausnummer 76 in der Lützowstraße beherbergt sowohl einen Schwechten- als auch einen Bachsaal.

In den ersten Nachkriegsjahren, als die berühmten Klassiktempel in Schutt und Asche liegen, wird im Hochmeistersaal in Halensee musiziert, in einem Rokoko-Saal in der Wilmersdorfer Kaiserallee oder auch im Gemeindesaal der Kirche am Hohenzollernplatz. Und die Konzertdirektion Mallon-Lippert betreibt in einer Grunewald-Villa in der Wangenheimstraße einen Konzertsaal, vermutlich in den eigenen vier Wänden. Jeder Klick generiert eine neue Spur, der man nachgehen könnte, auf den Pfaden der Suchmaschine in die feinsten Verästelungen der Berliner Kulturgeschichte.

Und dann blinkt einem unerwartet sogar der eigene Name entgegen aus diesem „Spiegel des Musiklebens“: Ach ja, Februar 2001, das Konzert der Kritiker, veranstaltet mit dem Deutschen Kammerorchester! Peter Uehling von der Berliner Zeitung spielte Klavier, Jürgen Otten („FAZ“) dirigierte, Moderation: Frederik Hanssen. Die Rezension des Verkehrte- Welt-Abends hatten wir damals einem Musiker übertragen. Er hat uns genüsslich verrissen.

Schierse-Konzertführer online unter www.sim.spk-berlin.de

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