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Klassik: Kerzenscheinsonate

Klassische Töne in Clärchen’s Ballhaus: Bei den Sonntagskonzerten im Spiegelsaal in Berlin-Mitte macht der Ort die Musik.

Sie wird doch nicht? Ihr Mezzosopran klingt derart zerbrechlich – und zittern nicht auch ihre Lippen? Weint sie etwa gleich? Bei flackerndem Kerzenschein ist das nicht genau zu erkennen. Warum mag sie den Tränen nah sein, hier im Spiegelsaal von Clärchen’s Ballhaus? Es könnte jemand verstorben sein. Oder sie ist gerade jetzt, kurz vor ihrem Auftritt verlassen worden?

In jedem Fall passt es gut zu der leidenden Arie aus der Händeloper „Giulio Cesare“. Der Hörer fühlt sich ein wenig schlecht, weil die privaten Gefühle der Sängerin zum eigenen Genuss beitragen. Oder spielt sie das alles nur? Man könnte sie ja später einfach fragen.

Denn im Spiegelsaal gibt es keinen Backstage-Bereich. Bei den sonntäglichen Kammerkonzerten benutzen alle denselben Eingang. „Es braucht eine gewisse Improvisation beim Ablauf, aber gerade dadurch entstehen lebendige Momente“, sagt Hannah Hohlfeld, die seit einem Jahr die Konzerte organisiert. Der Reiz dieses Raumes aber liegt darin, dass er seit über 100 Jahren weder umgebaut noch restauriert wurde.

Während man allein mit seinen im Halbschatten geborenen Vermutungen über das Gemüt der zum Greifen nahen Musiker auf seinem Holzstuhl sitzt, gleitet der Blick über den mit mythologischen Figuren besetzten Stuck. In der Ecke gibt es einen Wasserschaden, dort wo die Strahlen der Mittagssonne seit hundert Jahren auf das gebrochene Glas der deckenhohen Wandspiegel treffen, wirft die Silberfolie bereits Blasen: All das setzt sich wohltuend von den üblichen Hochglanz-Rekonstruktionen ab.

Der wirkliche Ursprung des Saales ist freilich vergessen, seit im ersten Weltkrieg die Baupläne verschwanden. Lange diente er nur als Lager. Erst als 2005 nach Mieterhöhungen die Betreiber wechselten, wurden er beim Entrümpeln neu entdeckt. Anfangs nutzten Fotografiestudenten und Kunstaktionen den Raum. Heute vermieten die Pächter den Saal für Dreharbeiten und gehobene Privatveranstaltungen. Man ist schon versucht, darüber zu klagen, dass hier wertvolles Kulturgut in Privathand versteckt bleibt – wäre da nicht die Sonntagskonzertreihe.

Die Aufführungen sind nämlich meistens umsonst. „Es sind mehr Leute da, wenn der Eintritt frei ist. Es ist schön, wenn Besucher kommen um zu schauen, dann bleiben und am Ende spenden, weil sie so etwas gar nicht erwartet hatten“, sagt Hanna Hohlfeld. „Tragen tut sich das ganze allerdings nicht.“ Weil die Pächter aber in ihr Prestigeobjekt investieren, bekommen die Musiker eine kleine Gage. Für diesen „Mindestlohn“ treten nicht nur Hochschulabsolventen auf. Sogar Mitglieder der Berliner Philharmoniker spielen hier inzwischen regelmäßig – wegen des Saals und seiner wunderbaren Atmosphäre. Weil die Spiegel die Optik weiten, wirken die Klänge von Arien, Streichquartetten oder auch Klezmermusik umso dichter.

Bei der Programmauswahl wird auch die Wirkung im diffusen Kerzenlicht berücksichtigt, das nur von einem schwachen Scheinwerfer in der kleinen Loge unterstützt wird. „Das Wunderbare sind die leisen und feinen Momente. Im Publikum sind ja vor allem Liebhaber. Immer sehr aufmerksam“, schwärmt Hohlfeld. Manchmal wird dabei eine musikalische Intimität möglich, dass man manchmal meint, in die Persönlichkeit der Musiker hinein zu horchen – obwohl nicht alle Besucher an jenem Sonntag die zitternden Sängerinnen-Lippen bemerkt haben.

Und Tanja Simic Quieroz, die Mezzosopranistin, die nicht nur den Händel sondern das gesamte Konzert ohne Tränenausbruch gesungen hat, bestreitet später am Ausgang jedes private Unglück. „Es ist immer ein schmaler Grat zwischen Rolle und eigenen Gefühlen“, lässt sie immerhin ein Hintertürchen offen.

Vielleicht weiß sie, dass die Ursprünglichkeit des Saals und seiner Geschichten wohl ein Stück weit in der Vorstellung des Einzelnen entstehen muss. Und vielleicht ist das eben das Besondere: Weil der Ort ungewöhnlich und das Publikum gemischt ist, ist man auch selbst ein bisschen stolz auf die Stimmung, die man selbst ermöglicht. Fast ist es, als würde das Publikum beim Applaus auch ein wenig sich selbst beklatschen.

Nächste Konzerte am 10.2. und am 24.2. jeweils 19 Uhr. Infos: www.ballhaus.de/konzerteundbaelle.html

Paul Bräuer

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