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Klassik: Rattle Is It!

Die Berliner Philharmoniker wollen noch populärer werden. Dank ihres Stardirigenten Simon Rattle setzen sie nun auf den Slogan: "Kultur für alle". Um ihr Ziel zu erreichen hat das Ensemble mit „Trip to Asia“ eigens einen Dokumentarfilm gedreht.

Seit dem Amtsantritt von Simon Rattle haben die Berliner Philharmoniker ein Problem mit dem Begriff Elite. Zu Karajans Zeiten war das Orchester selbstverständlich eine Institution für die happy few, denen es gelang, Tickets zu ergattern. Claudio Abbado, dem es beim Musikmachen vor allem darum geht, die Wahrnehmungsfähigkeit seines Publikums zu verfeinern, pflegte ein Programm für die Schöngeistigen und Kenntnisreichen. Der Brite Simon Rattle, als Künstler groß geworden in einem von krassen Klassengegensätzen geprägten Land, hat eine vollkommen andere Denkstruktur: Er will mit der Kunst in alle Bereiche der Gesellschaft ausstrahlen, will nicht nur von Zehlendorf bis Charlottenburg, sondern auch in Neukölln gehört werden. Education ist ein Schlüsselbegriff seiner Kulturarbeit – und dabei geht es ihm nicht allein um Kinderaufführungen, sondern darum, quer durch alle Generationen die Zugangsbarrieren zur Bastion der sogenannten Hochkultur zu schleifen.

Die Philharmoniker, die nach Abbados freiwilligem Abgang intensiv diskutiert haben, wohin für sie die Reise im 21. Jahrhundert gehen soll, fühlten sich 2002 reif für Rattle. In Pamela Rosenberg, der Amerikanerin mit 68er-Hintergrund, fanden sie nach dem Ohnesorg-Flop eine Intendantin, die auf Rattles „Kultur für alle“-Linie liegt und kostenlose Lunchkonzerte eingerichtet hat, mit einer Allaturca-Reihe den Kontakt zu Migranten sucht sowie Kartenkontingente für Jugendliche freigab. Dass sich dienstags um 13 Uhr im Philharmonie-Foyer oder auch beim Familienkonzert in der Treptower Arena dann zum allergrößten Teil doch wieder die gesellschaftliche Mitte einfindet, die wenig Lust verspürt, ihren Stammplatz Klassik-Neulingen zu überlassen, schmälert den Wert dieser Öffnung nicht. Sondern macht nur klar, dass es sich um einen langwierigen Prozess handelt.

Auch die Idee, das Massenmedium Film zu bemühen, passt zu den neuen Berliner Philharmonikern – und zwar nicht nur als Soundtrack-Lieferanten wie zuletzt bei Tom Tykwers „Das Parfum“ oder dem aktuellen Cinemascope-Naturspektakel „Unsere Erde“, sondern auch als Objekt der Betrachtung. „Rhythm is it“, die rasante Dokumentation des Education-Tanzprojekts zu Strawinskys „Sacre du printemps“ von Thomas Grube und Enrique Sanchez Lansch, wurde 2004 zum Kinoerfolg. Sanchez Lansch bekam daraufhin den Auftrag, zum 125-jährigen Orchesterjubiläum die Rolle der Philharmoniker in der NS-Zeit filmisch aufzubereiten. Thomas Grube wiederum wurde vom Orchester eingeladen, mit einem Kamerateam die Asien-Tournee im November 2005 zu begleiten. Hätten die Philharmoniker geahnt, was der Regisseur da am Schneidetisch aus 300 Stunden Rohmaterial zusammenfügen würde, sie hätten vielleicht von der Idee Abstand genommen, Leinwand-Protagonisten werden zu wollen.

Denn so gefährlich nahe wie Thomas Grube ist den Philharmonikern bislang noch kein Außenstehender gekommen. Die atmosphärischen Impressionen aus den Megacitys Peking, Seoul, Schanghai, Hongkong, Taipeh und Tokio bleiben Dekoration. Was an „Tip to Asia“ bewegt, sind vor allem die Statements von Simon Rattle und seinen Musikern. In den Einzelinterviews mit dem Chefdirigenten und 25 der 126 Orchestermitglieder dringt Grube tief ein ins Bewusstsein dieser selbstverwalteten Orchesterrepublik.

Wichtigste Erkenntnis: Wo es um die Berliner Philharmoniker geht, lässt sich der Begriff Elite nicht wegdiskutieren. Wobei die Exzellenz vor allem auf dem Podium zu suchen ist. Das Publikum immer wieder mit erstklassigen Interpretationen zu erobern, ist ein knochenharter Job. Und eine Arbeit, mit der man niemals fertig ist: „Je mehr man übt, desto kritischer wird man“, erklärt der Bratscher Martin Stegner. „Ich beneide da immer Handwerker, die irgendwas bauen und danach vor dem Werk stehen und wissen: Da steckt jetzt die Arbeit drin.“

Musikerkarrieren, das wird in den Gesprächen mit den Weltspitzenmusikern deutlich, starten mit einem Freudentaumel beim ersten Jugendorchestererlebnis. Danach beginnt der brutale Kampf um die besten Plätze, bei der Aufnahmeprüfung, während der Jahre auf der Hochschule, beim Probespiel um eine Festanstellung – und wenn man es dann geschafft hat auf die „Insel der Seligen“ (Solo-Bratscher Wilfried Strehle), nimmt der Druck nicht ab, stetig angefacht vom Anspruch an sich selbst und von der Gruppendynamik.

Im Alltag besser zu bleiben als die Kollegen von den mittelguten Orchestern, die ihre Proben und Aufführungen „Dienst“ nennen, stets wach im Kopf zu sein und perfekt in der Technik, das lässt die Philharmoniker fast übermenschlich groß werden – und Thomas Grube, der keine Angst vor Pathos hat, macht diesen „Trip“ zum großen Emotionstheater, wählt folgerichtig Richard Strauss’ „Heldenleben“ als Hauptquelle für den von Simon Stockhausen liebevoll aus Klassik und Alltagsgeräuschen gefrickelten Soundtrack.

„Wenn man wirklich ganz stark ist, braucht man viel weniger Bestätigung“, sagt Albrecht Mayer, der auch als Solist weltweit gefeierte Oboist. „Vielleicht bin ich gar nicht so stark. Ich brauche die Bestätigung, ganz häufig und regelmäßig.“ In Asien, wo das Wort Elite keinen negativen Beigeschmack hat, wo Instrumentalunterricht für die eigenen Kinder als Statussymbol gilt, schlagen den Berliner Philharmonikern Wellen der Liebe entgegen. Hier weiß man die Disziplin zu schätzen, mit der hoch qualifizierte Fachkräfte ihre individuellen Bedürfnisse zurückstellen, um der „Firma“ zum Erfolg zu verhelfen.

„In dem Moment, wenn du denkst, es geht um dich, wenn du nicht glaubst, dass die Musik etwas viel Größeres ist, hast du ein Problem“, findet Simon Rattle, der im asiatischen Ambiente fast wie ein Zen-Meister wirkt und vor der Kamera klug und treffend formuliert: „Um wirklich erfolgreich in einem großartigen Orchester spielen zu können, muss man eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit sein. Und man muss sich außerdem selbst zügeln. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen ist sowohl die Quelle des Problems für die einzelnen Musiker als auch die Quelle dieses Mysteriums, das ein Orchester ausmacht.“

„Die Suche nach dem Einklang“, wie Grubes Film im Untertitel heißt, beschreibt ein Projekt, bei dem der Weg das Ziel ist. Nicht nur, weil die Philharmoniker bei diesem „Trip to Asia“ letztlich durchreisende Gäste bleiben, sondern vor allem, weil das Unisono, die Parallelführung aller Stimmen, für eine Truppe wie diese niemals Dauerzustand sein kann. „Zivilisierte Menschen“, hat Kurt Tucholsky herausgefunden, „denken polyphon.“

Ab Donnerstag in 7 Berliner Kinos. Engl. OV im Cinestar Sony-Center.

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