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Kultur: Kleiner Kreisverkehr

Sie solle mehr tanzen, rät der Arzt der 80-jährigen Patientin. Und mehr küssen.

Sie solle mehr tanzen, rät der Arzt der 80-jährigen Patientin. Und mehr küssen. Wird gemacht, sagt die alte Dame und küsst ihren 91-jährigen Lover mit einer Leidenschaft, wie sie auf der Leinwand selten ist. Das Paar steht vor dem Bellaria, einem Kino in Wien, in dem die Filme mindestens 50 Jahre alt sind und die Besucher mindestens 70. Jeden Nachmittag kommen sie, der Studienrat und der Archivar, die Uhrensammlerin, das Mütterchen mit dem krummen Rücken, die aufgetakelte Sängerin und der Varieté-Star, der einst mit Zarah Leander befreundet war.

Douglas Wolfsperger begleitet sie in seinem wunderbaren Dokumentarfilm "Bellaria": Die Alten machen sich fein, treffen sich eine Stunde vor Filmbeginn im Foyer, essen Kuchen, plaudern und warten. Kinozeit ist angehaltene Zeit: die eigene Jugend auf immer und ewig. Das Fernsehen, sagen die Alten, kastelt uns ein. Nur das Kino setzt uns ins Bild. Vom Tod, der nahe ist, sprechen sie auch. Und vom Leben, das sich verdichtet im Lauf der Zeit. Deshalb hat der Tod seinen Schrecken schon lange verloren.

Die Filme von heute mögen die Bellaria-Besucher nicht. Zu wenig Gefühl, sagen sie. Auf dem 23. Max-Ophüls-Filmfest hätten sie sich wahrscheinlich die Retrospektive angeschaut, mit Filmen zum 100. Geburtstag des Namensgebers jener alljährlichen Begegnung des deutschsprachigen Regie-Nachwuchses in Saarbrücken.

Dabei hat sich der Nachwuchs längst professionalisiert. Die Debütanten liefern solide Kinostücke über den ersten Kuss, den ersten Sex, die erste Liebe, Ausbruch und Aufstand, das ganze Elend des Erwachsenenwerdens - eben das, wovon junge Menschen etwas verstehen. Da ist diese diffuse Wut im Bauch: "Lovely Rita" läuft in Jessica Hausners gleichnamigem Film mit eingezogenen Schultern wie eine Fremde in ihrem Leben herum, und die Kamera packt sie mit schnellen Zooms am Kragen. Eine verkorkste Existenz, die keiner mag, die man trotzdem versteht - und so schnell nicht mehr vergisst. Oder Evi in "Vollgas" von Sabine Derflinger. Sie jobbt in einem Ski-Hotel, schläft nie und legt eine selbstzerstörerische Panik an den Tag. Auch Henriette Heinze spielt diese Evi als getriebene Gestalt, die ihrer Lebensgier beinahe zum Opfer fällt.

Bei aller Energie bleiben die Geschichten doch brav; neben den bezaubernd verrückten Kino-Veteranen aus Wien sehen die Jungen - mit Verlaub - ziemlich alt aus. Vorzugsweise bewegt man sich im Kreis. In "Storno" von Elke Weber-Moore leiden zwei Freundinnen am Mief ihres hessischen Heimatdorfs - und bleiben dort. In "Elefantenherz" von Züli Aladag bricht ein junger Boxer (Daniel Brühl) mit seinem Alkoholiker-Vater - und kittet die kaputte Familie zusammen. In "Utopia Blues" von Stefan Haupt träumt Rafael (Michael Finger) von einer Musikerkarriere, zieht mit Rasierklinge zwischen den Lippen auf dem Dach eine Show ab oder legt sich in der Rush-Hour flach auf die Busspur. Die hilflosen Erwachsenen sperren ihn weg, bis er sanftere Töne anstimmt. Freizeit-Rebellen: Man bricht auf nach Utopia und hat längst den Blues.

Da ist die Supermarktverkäuferin, die Saisonkellnerin, die türkische Putzfrau. Oder der Arbeitslose, der Gelegenheits-Dealer, der Tankwart. Sie alle riskieren höchstens vorläufige Fluchten. Wenn überhaupt: Meret Becker und Oliver Korrittke verbarrikadieren sich in "Nogo" in einer abgelegenen Tankstelle und spielen Privatsphäre. Nur die Kundschaft stört gelegentlich noch: In der ersten (und einzigen gelungenen) Episode des Tankstellen-Tryptichons von Sabine Hiebler und Gerhard Ertl ist die Welt ein einziger Störfaktor. Lasst mich um Himmels willen in Frieden. Zuletzt geht die Tankstelle in Flammen auf, genauso wie in "Endstation: Tanke" von Nathalie Steinbart: Aus der Traum vom kleinen Glück.

Berlin, die Metropole, hat ihre Anziehungskraft verloren. Saarbrücken im Jahr 2002 stand ganz im Zeichen der Provinz. Wobei die aktuellen Querelen um die Nichtvertragsverlängerung der langjährigen Festivalchefin Christel Drawer selbst zur Provinzposse geraten: Wechselseitigen Schuldzuweisungen folgten tägliche Dementis des Festivals oder der Stadtverwaltung auf den Fuß. Höchste Zeit, dass das bei den Saarbrückern beliebte und überregional renommierte Nachwuchsfestival einer unabhängigen Trägerschaft überantwortet wird.

Auf der Leinwand ist die Komödie out: Die jungen Filmemacher aus der Schweiz, Österreich und Deutschland sind keine Kinder der Spaßgesellschaft, sondern gehen mit großem Ernst zur Sache. Noch vor ein paar Jahren hieß es vor allem: Wer bin ich, und wie komme ich am schnellsten auf meine Kosten? Jetzt wird die Frage anders gestellt: Wo bin ich, und was ist das für eine Gesellschaft um mich herum?

Explizit politisch äußern sich wenige. Wie ein Monolith ragte "Happiness is a warm gun" aus dem Festival-Programm: Thomas Imbachs verstörendes Kino-Experiment über die wahnhafte Verstrickung von Petra Kelly und Gert Bastian war bereits auf dem Filmfest von Locarno zu sehen (siehe Tsp. vom 10.8.01) und gehörte in Saarbrücken zu den wenigen Versuchen, auch formal etwas zu riskieren. Aber die kleinen, vermeintlich privaten Geschichten sind doch - und das ist neu - in präzise gezeichneten Milieus angesiedelt. "Die junge Regie-Generation positioniert sich aus", beobachtet Festivalchefin Christel Drawer. Und bedauert, dass die Flexibilität der neuen, billigen Digitalkameras weniger als im Vorjahr zur ästhetischen Herausforderung wurde.

Und wenn doch, dann auf die beliebige Tour. Dass Barbara Gräftners verwackelte Handkamera in "Mein Russland" (einer Farce über die Menschwerdung einer verbiesterten Spießerin mit Hilfe der berühmt-berüchtigten russischen Seele) mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde, verstehe, wer will. "Mein Russland" nähert sich mittels Dogma-Ästhetik einem Familien-Fest und weiß nichts damit anzufangen.

Dann lieber "Fickende Fische". Der Titel von Almut Gettos Debütfilm klingt zwar sehr direkt, bezeichnet aber eine der zärtlichsten Balladen von Saarbrücken 2002. Noch einmal die Geschichte einer ersten Liebe, die jedoch im Zeichen des Todes steht. Nina und Jan, ein freches Mädchen und ein schüchterner Junge, der mit geschlossenen Augen über die Fahrbahn läuft. Auch er hat eine Vision: Utopia liegt unter Wasser. Man braucht nur möglichst lange die Luft anzuhalten - und die ganze Welt leuchtet in Aquaraminblau. Fragt sich allerdings, ob Fische eigentlich Sex haben. Und wenn ja, wie.

Almut Getto erfindet das Kino nicht neu. Dennoch spielt sie mit ihrem Medium auf eine Weise, die sogar den Stammgästen des "Bellaria" gefallen könnte: Unmerklich infiziert die Todesnähe die Szenerie und bringt still-verrückte, fantastische Bilder hervor. Aber wahrscheinlich wären die Alten selbst damit immer nicht zufrieden. In ihren Augen ist die Liebe bestimmt eine viel zu wichtige Angelegenheit, um sie den Anfängern zu überlassen.

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