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Kultur: Kluge über Adorno

Fortsetzung von Seite 25: In der „Negativen Dialektik“ findet sich ein gespenstischer, fast autobiografischer Satz. Adorno spricht von der Frage, ob nach Auschwitz noch leben dürfe, „wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen“.

Fortsetzung von Seite 25:

In der „Negativen Dialektik“ findet sich ein gespenstischer, fast autobiografischer Satz. Adorno spricht von der Frage, ob nach Auschwitz noch leben dürfe, „wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen“. Und dann spricht er von der Kälte, der es zum Weiterleben bedürfe. Haben Sie Adorno als kalten Menschen erlebt?

Wer so mimetisch arbeitet wie Adorno, kann gar nicht kalt sein. Aber er wollte ein Buch über den Kältestrom schreiben. Wir kommen ja alle aus der Kälte: Vor 620 Millionen Jahren war der ganze Planet ein Eisball, in den Lücken dieses Eises entstanden unsere Vorfahren. Die Ergreifung des Planeten durch das Leben war die erste Globalisierung. Aber wir können auch nicht bei 90 Grad leben. Wir brauchen einen unterscheidenden Blick, und der braucht eine bestimmte Kühle.

Meint Adorno mit der Kälte nicht ein sich Verhärten gegen traumatische Erfahrungen?

Ich glaube, dass er in diesem Satz tausend Geschichten verdichtet. Eine dieser Geschichten wäre das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“: Eine ganze Stadt macht zu Weihnachten ihre Fensterläden zu, verschanzt sich gegen die Kälte in der geselligen Wärme des Christfestes. Und draußen stirbt ein Kind, das nirgends zuhause ist. Aber die Kälte durchdringt nicht alles, auch nach Auschwitz nicht. Es gibt lebendige Momente, unter meiner Haut lebt etwas. In der Libido, wenn zwei Menschen einander lieben, sind blinde Kräfte in beiden tätig.

Und diese Momente sind nicht gesellschaftlich beschädigt?

Das Gefühl ist beschädigt, weil es keine Gefäße findet. Die Nachtigallen jubilieren nicht, ihr Gesang ist eine Klage. Adorno hatte einmal vor, eine Odyssee zu schreiben, nur bestehend aus jüdischen Witzen aus Polen. Die Witze formulieren authentische Erfahrung. Der Schrecken ist darin eingeschlossen wie in Bernstein. Wenn es in der Gesellschaft ein realistischeres Verhältnis zum Leiden gäbe, dann wäre er ein Schatzsucher, der die Momente des Glücks sucht. Das sind Schätze, die auch standhalten gegenüber dem Leid, gegen den Mord.

In seinem Denken gibt es Inseln der glücklichen Naivität?

Er spricht vom Antirealismus des Gefühls. Keiner hält unerträgliche Verhältnisse für geeignet, in ihnen zu leben. Ich habe ein Eigentum an meinen Gefühlen, an meiner Libido. Und irgendwas draußen will daran Eigentum bilden. Dagegen wehre ich mich mit allen Kräften. Diese Unruhe ist eigentlich die Unruhe im Werk von Adorno. Die Negation wird getrieben von Sehnsucht und aus kindlicher Kenntnis, dass es eine Alternative gibt.

Es ist eine kindlich naive Ahnung, keine theoretisch abgesicherte Gewissheit?

Es kommt aus der Kindheit. Ich kenne keinen anderen Menschen, in dessen Augen man so viel Urvertrauen sieht wie in den Adornos. Der Glaube, dass es in den ersten drei Tagen seines Lebens gut mit ihm gemeint war, haftet ihm lebenslänglich an.

Auf Fotos wirken Adornos Augen eher traurig.

Weil es nicht zutrifft, dass es gut gemeint ist mit den Menschen in der Welt.

Das Gespräch führte Peter Laudenbach.

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