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Kultur: Knappe Lebensmittel

Gerard Woodwards Roman „Ausgehungert“

Für Tory entwickeln sich die wichtigsten Beziehungen ihres Lebens in Briefform. Ihre Kinder hat sie aufs Land geschickt, weg aus dem London des Zweiten Weltkriegs. Ehemann Donald gerät nach kurzem Einsatz an der Front in deutsche Kriegsgefangenschaft. Tory schreibt ihnen allen und erträgt ihr Dasein nur mit Mühe: die Schufterei in der Gelatine-Fabrik, die lahme Konversation mit ihrer Mutter. Reality bites. Vor allem die Bitten ihres Ehemanns, ihm schmutzige Briefe ins Lager zu schreiben, verwirren und beleidigen Tory, stets war es „Donald, der die ganze Arbeit machte und sich unermüdlich wie ein Lanzenreiter in der Dunkelheit über ihr abrackerte.“

Gerard Woodward ist im englischen Literaturbetrieb eine feste Größe, in Deutschland dagegen lernt man ihn mit „Ausgehungert“ erstmals kennen. „Nourishment“ heißt sein Roman im Original, „Ernährung“, das trifft den Kern genauso wie der deutsche Titel – alles eine Frage der Perspektive. Woodward geht es um Nahrungsmittelknappheit und ungestillte Leidenschaft. Beide sind Folge des Krieges und zehren an den überforderten Protagonisten. Nüchtern und dennoch elegant ist der Stil des Briten, Mit seiner Sprache bildet er die prekäre Realität der Menschen ab, die nichts von dem bekommen, was sie sich wünschen. Tory scheitert zunächst damit, die geforderten „Schlafzimmergedanken“ zu liefern, erst eine Affäre mit dem Besitzer der Gelatine-Fabrik versorgt sie mit den dafür notwendigen Erfahrungen. Donald ist berauscht von den detaillierten Intimbeschreibungen, er teilt sie für Schnaps und Schokolade mit den Mitgefangenen. Nach seiner Heimkehr entwickelt Donald sich jedoch zu einem Tyrannen, der der Familie nichts von seiner Fleischpastete abgibt: „Das wäre Verschwendung“.

Klug vermittelt Woodward die Distanz zwischen den Familienmitgliedern; zeitweise glauben die Kinder, ihre Eltern seien Schauspieler, die die toten Erzeuger auf Geheiß der Regierung ersetzt hätten. Dieses Misstrauen ist ständig zu spüren, es sorgt für das gegenseitige Aushungern. Mit einfühlsamer Komik stellt Woodward immer wieder die Frage, wie Menschen sich gegenseitig Nahrung geben oder daran scheitern. Ob als Familienroman oder als Zeitreise ins England der Churchill-Ära – „Ausgehungert“ ist präzise und lesenswert. Nik Afanasjew

Gerard Woodward: Ausgehungert. Roman. Aus dem

Englischen von Anne Rademacher. Knaus Verlag, München 2011. 416 Seiten, 19,99 €.

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