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Köln: Schatz im Schutt

Nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs: Warum mittelalterliche Handschriften im Wikipedia-Zeitalter so kostbar sind.

Die Handschriften von Albertus Magnus und von Karl Marx. Die seit 1376 vollständig erhaltenen Ratsprotokolle. Päpstliche Erlasse, kaiserliche Siegel, Briefe von Hegel. Zunftakten, Rechnungsbücher, Handelsurkunden. Die Handschriften des Klosters St. Barbara, überhaupt die Sammlungen der bedeutenden Klöster und Stifte rund um Köln. Adenauers Schriften. Heinrich Bölls Hinterlassenschaft in 380 Kartons, mit Abiturzeugnis, Werkmanuskripten und Briefen von Paul Celan. Die Nachlässe des Germanisten Hans Mayer, der Schriftstellerin Irmgard Keun, des Philosophen Vilém Flusser, der Architekten Dominikus und Gottfried Böhm. Das weltgrößte Jacques-Offenbach-Archiv samt Geburtsurkunde und Partituren. All das und noch mehr liegt unter den Trümmern des Historischen Stadtarchivs von Köln begraben. Wie viele der Schätze aus dem sechsstöckigen Plattenbau im Gereonsviertel – ein Hochmagazin mit Keller und angrenzendem Bungalow – zerstört sind, weiß niemand.

Von einer Katastrophe, einem Kulturgutverlust ersten Ranges sprechen viele nach dem Einsturz. Immer noch ist unklar, ob dabei Menschen aus den angrenzenden Häusern gestorben sind. „Das ist das Schlimmste“, sagt Kölns Kulturdezernent Georg Quander. Für ihn grenzt es an ein Wunder, dass alle Angestellten und Nutzer des Archivs das Gebäude rechtzeitig verlassen konnten. Den Verlust von Menschenleben kann man nicht gegen kulturelle Verluste aufrechnen. Quander sagt, sie seien womöglich größer als der Schaden nach dem Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar.

„Wir hatten sehr viele Unikate, von denen es keine Abschriften oder Sicherheitsverfilmungen gibt und die teilweise noch nie publiziert wurden.“ Bei 30 Regalkilometern habe man mit der Digitalisierung erst am Anfang gestanden. Einige Mikrofilme aus Köln zählen zwar zu den 2000 Tonnen sicherungsverfilmten Archivguts im Oberrieder Stollen im Schwarzwald. Aber Kopien ersetzen kein Original.

Das betont auch Eef Overgaauw, Leiter der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek. Er kennt das Archiv der Kollegen. „In der Stabi lagern zwischen 7000 und 8000 mittelalterliche Handschriften, in Köln gab es weit über 1000,“ erinnert er sich. Auch Overgaauw zieht den Anna-Amalia-Vergleich: „Das historische Gebäude der Weimarer Bibliothek ist ungleich wertvoller. Aber das Kölner Gebäude von 1971 war ein seinerzeit sehr fortschrittliches Gebäude, wegen der besonderen Klimatechnik. Die Außenluft wurde nach innen geleitet, für die Regelung des Mikroklimas im Magazin.“ Und was dort lagerte, war ebenso wertvoll wie die Bücherschätze von Weimar. Wegen der Bedeutung des mittelalterlichen Köln für Europa. Und wegen der Originale.

Allein die über 500 Schreinsbücher, in denen Katastereintragungen seit dem 12. Jahrhundert verzeichnet sind. Oder Zehntausende Testamente. „Gedruckte Bücher gibt es in einer bestimmten Auflage. Wenn eins vernichtet ist, kann man es ersetzen, Handschriften nicht“, sagt Overgaauw. „Alles, was wir über die Antike und das Mittelalter wissen, kennen wir aus ihnen. Sie sind die Zeugnisse ganzer Epochen. So war zum Beispiel das Karthäuser-Kloster St. Barbara, aus dem in Köln über 100 Handschriften lagen, im frühen 16. Jahrhundert eins der intellektuellen Zentren Westdeutschlands. Die Karthäuser verfassten theologische Werke, sie waren in den Handschriften der Klosterbibliothek überliefert.“

Warum sind Dokumente in Plastikfolien, tonnenweise beschriebenes Papier in Hängeschränken oder Schriftwechsel, die in staubdichten Pappkartons verwahrt werden, so unendlich kostbar – im Zeitalter der Digitalisierung?

Robert Kretzschmar, Präsident des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archive (VdA), erklärt es so: „Archivgut gibt es oft nur ein einziges Mal. Das Haptische einer Urkunde ist unwiederbringlich dahin, wenn das Unikat zerstört ist. Es ist, wie wenn wir von der ,Mona Lisa’ nur noch eine Reproduktion hätten.“

Overgaauw spricht von der dritten Dimension. „Ein gedrucktes Buch ist zweidimensional, eine mittelalterliche Handschrift dreidimensional. Es gibt die Schrift auf Pergament oder Papier, und noch viel mehr: die Struktur, die Farben, die Beschaffenheit, den Einband.“ Overgaauw weiß, wovon er spricht: Die juristischen Handschriften aus Köln wurden in der Berliner Staatsbibliothek katalogisiert. Oft wurden später Eintragungen vorgenommen, die selbst auf einer guten Kopie kaum entzifferbar sind. Bei Codices sind die Initialen kunstvoll verziert – Meisterwerke der Buchmalerei.

Köln. Rheinische Geschichte, deutsche Geschichte, Europageschichte. „Jede Generation“, sagt Robert Kretzschmar, der auch das Landesarchiv von Baden-Württemberg leitet, „geht mit neuen Fragen an die Dokumente der Vergangenheit heran. Ein Archiv ist ein unerschöpfliches Reservoir für diese Auseinandersetzung.“ Nicht nur für die Forschung. Eine Ratsurkunde bedeutet immer auch Identitätsstiftung. Und ein Stadtarchiv birgt komprimierte, in immer neuen Facetten abrufbare Geschichte mit hohem emotionalem Faktor. Deshalb hatte sich die Archivleiterin Bettina Schmidt-Czaia, seit 2004 im Amt, um mehr Bürgernähe bemüht. Deshalb hatte sie erst kürzlich den Platzmangel in Deutschlands größtem kommunalen Archiv beklagt und die Forderung nach einem baldigen Neubau bekräftigt. Bis Ostern sollte der Standort für den 40-Millionen-Euro-Bau gefunden sein.

65 000 Urkunden, die älteste von 922. 8400 Personenstandsbücher seit der Französischen Revolution. 104 000 Karten und Pläne. 50 000 Plakate. Über 600 Nachlässe. Die seit dem Mittelalter vollständig überlieferten Domkapitel-Protokolle verraten alles über das Verhältnis Stadt, Land, Kirche. Für Eef Overgaauw ist die in Köln materialisierte Erinnerungskultur auch deshalb so wertvoll, weil sie sorgfältig und gut organisiert aufbewahrt wurde – generell sind die Archivstandards in Deutschland hoch. Kostbar sei vor allem der Umfang des Bestandes, die Breite der Überlieferung. „Dort lagerte wirklich das Gedächtnis der Stadt, Wirtschaftsgeschichte, politische Geschichte, Sozialgeschichte, Geistesgeschichte über eine Zeitspanne von mehr als tausend Jahren.“ Da nimmt sich die Versicherungssumme von 60 Millionen Euro fast lächerlich aus. Nur wenige deutsche Stadtarchive sind laut Overgaauw ähnlich reich, München, Augsburg oder Nürnberg.

Ein Schatz, der sich nun in einen Schutthaufen verwandelt hat. Dennoch warnt VdA-Präsident Kretzschmar: „Bitte noch keine Nachrufe auf das Stadtarchiv schreiben.“ Kulturdezernent Quander hofft ebenfalls, dass nicht alles verloren ist. Zwar liegen tief im Krater in der Severinstraße Dokumente auf Grundwasserhöhe – Wasser ist für Papier so verheerend wie Feuer. Aber erste Kartons konnten geborgen werden, von den 20 Archivaren und Restauratoren vor Ort. Ein großer Teil des Archivs könnte den Einsturz unter Regenplanen und Betonmassen sogar überstehen, wenn auch schwer beschädigt.

Genaue Schadenslisten wird es wohl erst nach Wochen geben. Geduld ist geboten. „Wir können nicht mit Schaufelbaggern arbeiten, sondern müssen händisch vorgehen,“ sagt Quander. Der Restaurierungsaufwand wird enorm sein, eine Aufgabe für die gesamte Kulturnation. Sachsen hat seine Hilfe bereits zugesichert, in Erinnerung an die Solidarität nach dem Elbhochwasser 2002.

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