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Kultur: König in der Gelehrtenrepublik

Lessings wahrer Erbe: Der Aufklärer, Humanist und Widerspruchsgeist Walter Jens feiert heute seinen 80. Geburtstag

Von Caroline Fetscher

Elf Jahre alt war der Junge, als er seinen Lateinlehrer Ernst Fritz vor den Schergen des Naziregimes schützen wollte. Am humanistischen Hamburger Johanneum hatten ein paar Mitschüler von Walter Jens den Studienrat Fritz wegen dessen Distanz zum Regime denunziert. Als die Männer der Gestapo den kleinen Walter Jens befragt hatten, notierten sie: „Jens leugnet schlechterdings alles – selbst das, was der Lehrer schon zugegeben hat.“ Ernst Fritz hatte Witze wie diesen erzählt, an den sich Jens gut erinnert: „Was ist der Unterschied zwischen einem SA-Mann und einem Hund? Der SA-Mann hebt den Arm, der Hund hebt das Bein.“ Das wollte der Sextaner Jens, den die Inquisitoren vernahmen, „nie gehört“ haben. Es half nichts. Der Lehrer landete im Gefängnis. Sein Schüler aber, verstört, bestürzt, bewahrt das Verhörprotokoll auf, als Dokument der ersten Begegnung mit der Erbarmungslosigkeit und Einfalt der Mächtigen – denen er Zeit seines Lebens nicht mehr trauen würde.

Hamburg war Walter Jens’ erster Lehrort. Geboren heute vor 80 Jahren in der Hafenstadt der Patrizier und Pfeffersäcke, erlebte der Sohn einer „rote Lehrerin“ (W. J.) und eines „mittleren Bankdirektors“ das Ende der Weimarer Republik, die folgenschwere Erschütterung seiner Welt. An der „Gelehrtenschule Johanneum“, zu deren Eleven einst Brockes und Hebbel zählten, galt gleichwohl – oft zum Unmut der Kaufleute – das Motto: „Ihr habt das Geld und wir den Geist“. Es blieb das Motto von Walter Jens, bis heute.

Jens´ Generation wuchs auf mit der Erfahrung des im NS-Regime institutionalisierten moralischen Skandals, eine Erfahrung, die der spätere Autor, Professor und Rhetor nie vergisst. Heinrich Böll, ein langjähriger Freund der Eheleute Walter und Inge Jens, sagte einmal, er beurteile Menschen nach der Antwort auf die im Stillen gestellte Frage: „Würde der mich im Notfall verstecken?“ Ein solides Kriterium. Während des letzten Golfkrieges beherbergte das akademische Paar zwei Deserteure der US-Army in ihrem Haus in der Tübinger Sonnenstraße. Sie handelten sich einen Prozess ein, fochten ihn durch, zahlten Strafe, und bereuten nichts. Das Richtige zu tun, ein rechtschaffener und ein Recht schaffender Mensch zu sein, ein Humanist, Zivilist, Pazifist – darum geht es Jens zu jeder Zeit, ganz gleich, was andere darüber sagen. In Mutlangen hockte er in der Sitzblockade, er setzte sich für das ökumenische Kirchenasyl ein, für die Grundrechte und für mehr Transparenz beim Bundesnachrichtendienst. Getrost solle man ihn einen „Gutmenschen“ nennen, erklärt der Gelehrte, nachsichtig und pariert mit der rhetorischen Frage: „Warum sollte ich ein Schlechtmensch sein?“

In Hamburg lernte Jens die hanseatische Variante der Klassengesellschaft kennen, den Faschismus, das Widerstehen, die Basis des Humanismus. Wegen seines chronischen Asthmas vom Militärdienst befreit, arbeitete der Abiturient einige Kriegsmonate lang als Luftschutzhelfer im Rotlichtmilieu der Hansestadt – eine kurze, eindringliche Schule der Realität. In Freiburg, wohin der Student bald übersiedelte, belegte er das Fach Altphilologie (die Germanistik war zu parteiorientiert), hörte bei dem Philosophen Martin Heidegger und promovierte 1944, als Einundzwanzigjähriger, über den altgriechischen Kriegs-Historiker Thukydides. Von da an war es die Universität, für ihn das klassische Tor zu wissenschaftlicher Universitas, die ihn nicht mehr fortließ, auch wenn er sich als Romanautor („Nein. Die Welt der Angeklagten“, 1950, „Der Blinde“, 1951) bewies. Bald stieß Jens zur Gruppe 47, der er zunächst als Schriftsteller, dann zunehmend als ebenso geschätzter wie gefürchteter Kritiker und Essayist angehörte.

Mit Voltaire und Loriot

Gefürchtet, ja. Doch wo jemand Jens Hochmut unterstellt, entdeckt man bei genauerem Hinsehen Ungeduld, nichts als Ungeduld mit den Ungebildeten. Nicht mit denen, denen es an Chancen mangelte, sondern mit jenen, die solche Chancen freiwillig ausgeschlagen haben. Jens verachtet weder Fernsehen noch Fußball – aber Eleganz muss dabei sein, Witz muss es geben, Originalität, Widerspruch. Auch Unterhaltsamkeit. So füllte er zusammen mit Vicco von Bülow alias Loriot jahrelang die Säle, als sie den Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen vortrugen. Und einen seiner zahlreichen Preise, den Grimme-Preis, erhielt er für seine Fernsehkritiken in der „Zeit“, die vor 20 Jahren unter dem Pseudonym „Momos“ erschienen. Das Fernsehen, so scheint es bei der Lektüre, hat der Gelehrte ebenfalls gelesen – als einen spannenden, bebilderten Text. Kein Wunder, dass sich der Fachkollege Franz Josef Strauß einmal bedauernd über Jens beschwerte: „Das ist doch dieser Altphilologe, der auf der falschen Seite steht.“

So hingebungsvoll Jens als Leser lebt, als unstillbar Durstiger, der immer „mit Bleistift“ liest, um die ihm wichtigen Passagen zu markieren, so engagiert ist er als Autor. „Für einen Essay oder eine Rede nehme ich mir Monate Zeit“, erklärt er, der sich als liebsten Hausgast Lessing wünschen würde, hätte er die Wahl unter allen Zeitgenossen und Toten. Wenn er Lessing, den „Meister aller Formen“, preist, spricht Jens unverkennbar über einen Wahlverwandten. Eine kompakte Hommage hat er ihm gewidmet, „In Sachen Lessing“. Dort heißt es an einer Stelle: „In seinem Geistreich ging´s demokratisch zu – und, bei Gott, er hätte die Wirklichkeit gern verwandelt, die Fürsten zu Bürgern (und umgekehrt), die Christen zu Juden (und umgekehrt), kurz, jedermann zu jedermanns Partner gemacht - Fürst und Bauer und Jude und Christ und Muselmann und, dies vor allem, Mann und Frau als ranggleiche Bewohner einer Lessingschen Republik.“

Ja, richtig: Mann und Frau. Im Ehepaar Jens hat sich ein Teil der Lessing´schen Vision für ihn erfüllt. Zusammen mit Inge Jens, die er 1951 heiratete, lebt er in dieser Republik. Mit ihr schrieb er die Geschichte der Tübinger Universität, an der Walter Jens drei Jahrzehnte lang den Lehrstuhl für Rhetorik innehatte. Sie haben zwei Söhne, beide kreative Medienmacher. Und jetzt – darüber ist das Paar fast ungläubig glücklich – gelang ihnen zu zweit gar ein Bestseller. Jahre haben sie darauf verwendet „Frau Thomas Mann“ zu schreiben, die soeben bei Rowohlt erschienene Studie über Katia Mann, geborene Pringsheim, die Gattin im Schatten Thomas Manns. Ihrer beider Danksagung am Schluss des Buches umfasst vier volle, kleingedruckte Seiten. Sie wollen auch anderen Respekt zollen, dezidiert. Seine Frau Inge – anders als in so vielen Ehen Intellektueller – erwähnt Jens oft. Inge, die da war in den Phasen seiner Depression, von denen er anrührend und freimütig spricht. Inge, die er liebt. Eine Autobiografie hat er auch darum nicht geschrieben, weil dieser Teil seines Lebens sein eigener bleiben sollte – und weil „name-dropping“ ihm nicht liege.

In Berlin, einer weiteren Eckstadt in seinem Lebensdreieck, lasen Inge und Walter Jens Ende Februar aus dem gemeinsamen Buch. Nach Berlin wurde er im Mai 1989 gerufen, um Präsident der Akademie der Künste zu werden. Gemeinsam mit Heiner Müller schaffte er es, dem langen, unrühmlichen Gerangel um die Vereinigung der Akademien von DDR und West-Berlin, einen produktiven Ausgang abzutrotzen; er ist bis heute Ehrenpräsident der Institution. Doch Walter Jens wohnt jetzt wieder ganz in Tübingen, wo er auf den Wegen, die schon Hölderlin und Uhland erwanderten, fast täglich mit seiner Frau spazieren geht. Heute Abend wird er in den Fürstenzimmern des Tübinger Schlosses, einen Steinwurf entfernt vom Hölderlin-Turm, als Jubilar gefeiert.

Brücken bauen zwischen den Zeiten

Ein Schüler des Johanneums, sagte Jens in einer Rede zum 450. Jubiläum seines alten Gymnasiums im Mai 1979, könnte „auf Latein die Zeit überbrücken“. Wer das Lebenswerk von Walter Jens zu überblicken sucht, der hat immer deutlicher eine Landschaft der Brücken vor sich, eine nachgerade venezianisch reich wirkende Geisteswelt. Da sieht man Brücken zwischen Antike und Gegenwart, zwischen Kunst und Politik, Klassik und Moderne, Sport und Wort, Witz und Ernst. Von Homers „Ilias“ und „Odyssee“, die er, neu erzählt, als Jugendbuch herausgab, bis zu Voltaire, reicht der Horizont des Gelehrten. Von Euripides und Aischylos, deren Dramen er Stoffe entnahm, bis zu Lessing, seinem Liebling, und zu Fontane, den er seitenlang auswendig zitieren kann. Vom Matthäus-Evangelium, das er in die Sprache der Gegenwart übersetzte, bis zu Erasmus von Rotterdam – die Neugier, Leselust und Schreibfreude von Walter Jens sind unbezähmbar.

Der mitunter kurzatmige Asthmatiker baut seine geistigen Brücken mit langem Atem. Das Baumaterial: Sprache. Es sind Brücken aus dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen – das man beim Lesen zu hören glaubt, wie eine Stimme. Der Rhetor schreibt, der Schreibende spricht. Zu seinen breitesten, mächtigsten Brücken gehört vielleicht das von ihm herausgegebene „Kindlers Neues Literatur Lexikon“ in 20 Bänden. All die Brücken nun führen zu einer großen Agora, einem Schauplatz des Disputs wie der Geselligkeit und Harmonie. Dabei bleibt Walter Jens´ Sprache, auch da wo sie am elegantesten, am präzisesten erklingt, stets im Dienst zweier bei ihm stets höchstlebendiger Begriffe aus dem „alten Europa“: Ethik und Aufklärung. Wo gibt es in diesem Land einen zweiten solchen Humanisten – und wo wachsen solche nach? Das Echo auf diese Frage lautet nicht nur „Pisa“.

Schließlich ist es immer auch die Rede der Einmischung, um die es ihm geht. 1973 unterschrieb Walter Jens mit Hannah Arendt, Ernst Bloch, Peter Weiss und anderen Intellektuellen einen Aufruf zum Frieden im Nahen Osten, den die „New York Times“ publizierte. Fragt man den passionierten Demokraten Jens heute, was sein sehnlichster Wunsch wäre, siedelt die Antwort dicht am damaligen Wunsch. Er überlegt eine Minute und diktiert dann mit Nachdruck: „Ich wünsche mir, dass es dem alten, von Vernunft und Weisheit geprägten Europa, gelingt, die verblendeten Sachwalter eines angeblich Heiligen Krieges in Ost und West, am Ende doch friedlich zur Einsicht zu bringen.“ Wer ihm zuhört, wird überzeugt von der Kraft einer liebevollen Vernunft.

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