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Gesichter, Gesichte. Das Plakat „Pietà“, eine Farblithografie von 1908 (links); das Ölgemälde „Proletarierkinder (Bruder und Schwester)“ von 1912 (oben) und „ Mädchen in blauem Kleid“, Tempera und Aquarell auf Papier, 1920. Abbildungen: Katalog

© Kunstmuseum Wolfsburg/Katalog

Kokoschka-Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg: Gesicht und Körper

"Seelenaufschlitzer" und Bürgerschreck: Das Wolfsburger Kunstmuseum feiert das Werk Oskar Kokoschkas mit einer opulenten Schau.

„Der Sessel, auf dem Karl Kraus für dieses Porträt gesessen, ist nach der letzten Sitzung auseinandergefallen“, pinselte Oskar Kokoschka am 7. Februar 1925 auf die Rückseite der Leinwand. Hatte der Wiener Satiriker und Schriftsteller während der Modellsitzungen so nervös herumgehampelt? Kokoschkas Bildnis räumt der ungelenk ausfahrenden Gestik fast die Hälfte des breiten Bildformats ein. Nicht nur die mit lila Pinselstrichen akzentuierte Gesichtslandschaft, sondern auch der Körper wird hier zur Bühne des Selbst.

Immer wieder ziehen in Kokoschkas Bildnissen die Hände die Aufmerksamkeit auf sich. Sie verkrampfen sich, spreizen die Finger, formen kryptische Zeichen und stehlen den Gesichtern gerade bei den frühen Arbeiten fast die Schau. Das will etwas heißen. Denn auch in den Physiognomien ballte der junge Kokoschka angefeuert vom Erlebnis van Goghs eine immense Ausdrucksenergie. Ob das Resultat dem Dargestellten ähnelte, war dem Maler zweitrangig. Nicht jeder Auftraggeber konnte sich damit abfinden. Aber der Schriftsteller Walter Hasenclever meinte, er bemühe sich täglich, seinem Bildnis ähnlicher zu werden.

Kokoschka: Humanist und Rebell

Rund 55 Gemälde und 140 Papierarbeiten versammelt das Kunstmuseum Wolfsburg zu einer Kokoschka-Retrospektive, die zuvor schon in Rotterdam zu sehen war, aber kräftig aufgestockt wurde. Denn immerhin feiert das Wolfsburger Haus mit dem Publikumsmagneten Kokoschka sein 20-jähriges Bestehen. In den letzten Jahren hatte Direktor Markus Brüderlin das Museum eher als Experimentierlabor mit essayistischen Themenausstellungen und Gegenwartskunst positioniert. Nun, nach seinem plötzlichen Tod im März, ist die Zukunft völlig offen.

Unter dem Motto „Humanist und Rebell“ stellt Gastkuratorin Beatrice von Bormann im chronologischen Durchlauf die bekannte Werk- und Lebensstory vor. Schon als Student mit Anfang 20 porträtiert Kokoschka seine Kusine gekonnt, aber konventionell. Dann wird er als Grafiker von der Wiener Werkstätte entdeckt und entpuppt sich flugs als Bürgerschreck: Bei ihm ist selbst der Jugendstil nicht schönlinig, sondern kantig und voll abgründiger Psychologie.

Gemälde von Kokoschka
Gemälde von Kokoschka

© Kunstmuseum Wolfsburg/Katalog

Der "Seelenaufschlitzer"

Der Projektemacher und „Sturm“-Herausgeber Herwarth Walden holt den „Seelenaufschlitzer“ Kokoschka 1910 nach Berlin. Ein ganzer Raum ist seinen großformatig gemalten und auf den Lithostein gezeichneten Porträts von „Sturm“-Kollegen gewidmet. Da hängen Alfred Kerr, Paul Scheerbart, Richard Dehmel und natürlich Walden selbst: Ihre Köpfe gleichen nervösen Kalligrafien, jede Linie ein Psychogramm. Mit dem Schauspieler Rudolf Blümner, den er schielend porträtierte, teilte der Maler zeitweilig eine Dachkammer in Waldens Haus.

Seine Affäre mit der Künstlerwitwe Alma Mahler, erst glücklich, dann gescheitert, bietet reichlich Stoff zur malerischen Verarbeitung. Nach dem Ersten Weltkrieg geht Kokoschka, nun zum Professor bestellt, nach Dresden – und farbig richtig in die Vollen. Fast wie ein Glasfenster leuchtet, als Einzelstück präsentiert, sein „Mädchen mit Puppe“ von 1921/22, eine Leihgabe aus Detroit.

Kokoschka malte gern Kinder. Vor allem aber gefiel es ihm, Prominente zu porträtieren. Das sicherte dauerhaften Ruhm und oft ein gutes Einkommen. Kokoschka malt den Virtuosen Pablo Casals, den tschechischen Präsidenten Masaryk, den sowjetischen Botschafter in London, den Bürgermeister von Hamburg und 1970 sogar den kleinen Sohn von Sophia Loren. Im englischen Exil kommentierte Kokoschka mit politischen Allegorien das Weltgeschehen.

Er verwandelte den britischen Premierminister Chamberlain in eine Krabbe am Strand, um dessen zögerliche Haltung gegenüber Hitlers Expansionspolitik zu kritisieren oder er ließ Queen Victoria als Loreley auf einem Hai reiten und entwarf Plakate, um notleidenden Kindern im Krieg zu helfen. Aber diese Arbeiten des erklärten Pazifisten Kokoschka wirken kryptisch oder zu gewollt, fast ein wenig naiv.

Eine Entdeckung hingegen sind seine Tierbilder. Kokoschka widmet sich den animalischen Geschöpfen als Individuen und mit derselben malerischen Verve wie seinen menschlichen Modellen. Vor Berliner Hinterhofkulisse lässt er eine struppige Katze durch die Großstadt tigern. Im Berliner Aquarium faszinieren ihn die Wasserschildkröten. Und im Londoner Zoo begegnet er dem Mandrill George. Dem kapitalen Affen widmete Kokoschka ein großes Leinwandformat in Dschungelgrün und meinte später: „Als ich ihn malte, sah ich: das ist ein wilder, isolierter Kerl, fast wie ein Spiegelbild von mir.“

Bis 17. August 2014, Di-So 11-18 Uhr. Katalog 322 Seiten, im Museum 38 €.

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