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Das Pong-Team. Caroline Kirberg, Merle Kröger und Philip Scheffner bringen am Donnerstag die Doku „Havarie“ ins Kino.

© Thilo Rückeis

Kollektiv Pong Film: Radikal subjektiv

Das Kreuzberger Kollektiv Pong Film bewegt sich zwischen Fiktion und Dokumentation. Jetzt kommt „Havarie“ ins Kino – ein Blick auf das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer.

Von Andreas Busche

Ein kleines Boot auf dem offenen Meer. Man meint das Bild schon hundertmal gesehen zu haben. Schemenhaft sind Menschen zu erkennen, zu viele Menschen für so ein kleines Boot, das verloren wirkt in einer Wand aus ozeanischem Blau. Auf YouTube entstand in den vergangenen Jahren ein regelrechtes Genre mit solchen Clips: Handy-Videos, gefilmt von jungen Nordafrikanern, die ihre Papiere verbrennen, bevor sie sich auf die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer begeben – auf Arabisch heißen sie „Harraga“.

Als der Filmemacher Philip Scheffner und die Autorin Merle Kröger im Internet auf das im September 2012 aufgenommene Video stießen, hatte die sogenannte Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Bilder von verzweifelten Menschen in wackeligen Schlauchbooten waren in den westlichen Medien dennoch allgegenwärtig.

Etwas faszinierte Scheffner und Kröger an dem 3:36 Minuten langen Clip und es war nicht das paradiesische Blau, das sie an den gleichnamigen Film von Derek Jarman erinnerte, sondern ein kurzer Kameraschwenk ab Minute 1:50. Die Bewegung entlarvte die Position des Filmenden: Er befand sich an Bord eines Kreuzfahrtschiffs. Der Blick auf das Flüchtlingsboot entsprach „unserem“ Blick auf eine inzwischen beinahe alltägliche Tragödie.

Der Anfang war das YouTube -Video einer Seerettung

Die Hinterfragung der eigenen Betrachterposition ist zum Markenzeichen der Arbeiten von Scheffner und Kröger geworden. In den neunziger Jahren waren sie mit der Gruppe Dogfilm in verschiedenen Medien- und Videokunstprojekten involviert, 2001 gründeten sie Pong Film. Nominell ist Pong eine Produktionsfirma, hinter den Kulissen jedoch viel mehr als das: ein Autorenkollektiv, eine Werkstatt, ein Think Tank, der Ideen und – mitunter enorm rechercheaufwendige – Projekte entwickelt und realisiert. Sie selbst beschreiben Pong als „Plattform für Text, Ton und alles was dazwischenliegt.“

„Die Recherche ist für uns ein wichtiger Prozess“, erklärt Scheffner das Pong-Prinzip, „auf diesem Weg finden wir zu den Fragen, um die sich unsere Filme drehen.“ Kröger und Scheffner sitzen in ihrem Kreuzberger Büro an einem großen Tisch, der das operative Zentrum von Pong darstellt. Nebenan entsteht gerade ein „Denkraum“, wie Kröger ihn nennt, ohne Telefon, ohne Computer. Ein Schnittplatz befindet sich am anderen Ende des Büros. Hier arbeiteten sie auch an ihrem Dokumentarfilm „Havarie“, dessen Entstehungsgeschichte mit dem YouTube-Video einer Seerettung begann.

Allein mit dem Boot. Still aus "Havarie"
Allein mit dem Boot. Still aus "Havarie"

© Realfiction

Das Handy-Video, das Terry Diamond im September 2012 an Bord des Kreuzfahrtschiffs „Adventure of the Seas“ drehte, ist ein gutes Beispiel für die Pong-Arbeitsweise. Ausgehend von einer Nachricht oder einem Fundstück ergründen die Dokumentarfilme Scheffners eine Geschichte hinter der offiziellen Version eines Ereignisses. Sein letzter Film „Revision“ (2012) stellte eine Verbindung her zwischen einer Nachricht aus dem Jahr 1992 über den vermeintlichen Jagdunfall zweier rumänischer Männer und den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen.

In „Havarie“, der am Donnerstag in den Kinos anläuft, diente das Handy-Video als Ausgangspunkt. Scheffner und Kröger führten Interviews mit Diamond, mit den Besatzungsmitgliedern des Kreuzfahrtschiffs und eines Containerschiffs, das ebenfalls an der Rettungsaktion beteiligt war, sowie dem bereits vor Jahren geflüchteten Abdallah Benhamou. Doch der Film gibt nur einen Aspekt der Recherchen wieder. Im Oktober 2015 erschien Merle Krögers Roman „Havarie“, der die Ereignisse auf dem Mittelmeer als dokufiktionalen Thriller erzählt.

Der Betrachter ist mit sich und dem Bild des Boots allein gelassen

„Beim Film arbeiten wir hinter einer Membran aus Erlebtem, Erzähltem, Dokumentarischem und Gesehenem“, erklärt Kröger, die für „Havarie“ mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde. „Als Autorin bin ich freier. Begegnungen oder Stimmungen, die wir während unserer Recherchen erleben, kann ich in fiktiver Form, etwa als atmosphärischen Rahmen oder als Situationsbeschreibung, besser aufgreifen.“ Scheffner ergänzt: „Außerdem fällt es einem leichter, einen wichtigen Aspekt aus dem Film rauszuschmeißen, wenn man weiß, dass er in anderer Form Verwendung findet. Bestimmte Bilder besitzen ein eigenständiges Potenzial, das man erkennen muss.“

In Fall von „Havarie“ erkannten sie das Potenzial des YouTube-Clips erst während der Produktion. Ihre Entscheidung war ästhetisch umso konsequenter: Sie streckten die kurze Szene auf 90 Minuten Länge, was etwa einem Filmbild pro Sekunde entspricht, und unterlegten die Bilder mit einer Collage aus den Interviews und Funksprüchen der Küstenwache. Eine radikale Subjektivierung unseres Blickes, der durch die mediale Berichterstattung längst abgestumpft war. Der Betrachter ist mit sich und dem Bild des in Ultrazeitlupe hüpfenden Boots allein gelassen.

Keiner im Kollektiv hat je eine Filmhochschule besucht

„Wir wissen am Anfang genau“, erklärt Scheffner, „wie unsere Filme aussehen sollen. Aber es gibt eine Instanz der Selbstüberprüfung, die wie bei ,Havarie’ zu etwas Neuem führen kann.“ Zu dieser „Instanz der Selbstüberprüfung“ gehören seit zwei Jahren die Produzentin und Filmemacherin Caroline Kirberg und die Filmemacherin Alex Gerbaulet. Pong hatte zuvor Gerbaulets preisgekrönte Doku „Schicht“ produziert, der die Familiengeschichte der Regisseurin mit dem historischen Niedergang des Industriestandorts Salzgitter verknüpft. „Unser Interesse an der Recherche ist der Punkt, an dem wir damals zusammenkamen“, sagt Gerbaulet. „Außerdem sind wir alle Autodidakten. Keiner von uns hat je eine Filmhochschule besucht.“

Gerade haben Kirberg und Kröger noch über einen neuen Förderantrag gesprochen. Die Finanzierung ist bei Pong immer eine Herausforderung, da Filmförderung in Deutschland als Wirtschaftsförderung begriffen wird. In kommerzieller Hinsicht sind die Pong-Filme natürlich uninteressant, für eine Entwicklungsförderung kommen sie daher nicht infrage. Man beginnt mit jedem Projekt bei null, obwohl schon „Revision“ erfolgreich auf internationalen Festivals lief. Immerhin, betont Scheffner, genieße man bei bestimmten Geldgebern inzwischen einen Vertrauensvorschuss, was nachträgliche Korrekturen am Konzept, wie im Fall von „Havarie“, erleichtert. Bei der Arbeitsweise von Pong lässt sich das Produzieren und das Machen ohnehin kaum noch voneinander trennen. Ihre Filme reflektieren immer auch die Entstehungsprozesse.

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