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Nach Tschernobyl. Für seinen Bildband „Verlorene Orte – Gebrochene Biografien“ (Internationales Bildungs- u. Begegnungswerk, Dortmund 2011, 96 Seiten, 25 €) hat Ruediger Lubricht 2003 auch diesen Kindergarten in Pripjat fotografiert.

© Bilderberg

Kollektive Erinnerung: Alles kommt ans Licht

Atomkraft, Missbrauch und Finanzspekulation: Diese Beispiele sprechen doch dafür, dass die Gesellschaft traumatische Ereignisse nicht mehr verdrängt und verschweigt - oder?

Von Caroline Fetscher

Greller könnten die Scheinwerfer kaum sein, heller könnten sie kaum leuchten, mehr Transformation nicht provozieren. Weltweit, auf Tausenden von Sendern, Webseiten und Zeitungsblättern, wird die Öffentlichkeit konfrontiert mit der Havarie der Atomtechnik, dem größten anzunehmenden Unfall, abgekürzt GAU. Was unter dem Rubrum „Restrisiko“ abgeheftet, doch nie von Versicherungen abgedeckt worden war, zeigt sich jetzt, Wirklichkeit geworden, als eine potentiell desaströse Großtechnologie.

Offensichtlich geworden ist auch das Ausmaß der Unterdrückung und Gewalt, das sich hinter dem orientalischen Vorhang der arabischen Welt verborgen hatte. Ans Licht kam in jüngerer Zeit, wie häufig und drastisch sich in Kirchen, Familien, Sportvereinen Erwachsene sexuell an Kindern vergingen, was einen GAU für die Sozialisation bedeutet. Wenig zuvor, beim desaströsen Finanzcrash war herausgekommen, dass verantwortungslose Banker, Broker und Spekulanten einander faule Aktienbündel in Hedgefonds zugespielt hatten, worüber der Ökonom Bernd Niquet 2010 sein Bekenntnis „Wie ich die Finanzkrise erfolgreich verdrängte“ verfasste. Er verlasse, verkündete der reuige Spekulant, nunmehr die finstere Spielhalle seines Vorlebens.

Vor dem Aufblenden der Scheinwerfer lag in allen Fällen Verdrängung, das kollektive wie individuelle Ausblenden vergangener und aktueller Realität. Und Verdrängung kommt nicht nur psychisch teuer zu stehen, ihr Resultat sind Aufräummilliarden, Entschädigungsmillionen, Unsummen für Rettungspakete.

In Japan hatte man verdrängt, dass man Kernkraftwerke auf Erdbebengebiet gebaut hatte, Finanzbetrüger hatten den potentiellen Zusammenbruch des Systems, sexuelle Gewalttäter die Möglichkeit des Überführtwerdens verdrängt.

An die Stelle traditioneller Schweigekartelle treten, so scheint es, große, wachgerüttelte Teile der Gesellschaften. Auf Straßen, in Kabinetten, Synoden und Aufsichtsräten ertönt der mehr oder weniger ehrliche Ruf: „Nie wieder!“ Claus Leggewie, Katholik und Kulturwissenschaftler, sprach am Sonntag im Deutschlandradio angesichts der Fukushima-Katastrophe von einem „globalen Mentalitätswandel“, von der „Selbstermächtigung der Bürger“ gegenüber trägen, verdrängenden Entscheidungseliten. Zu den Aufklärungsprozessen tragen entscheidend neue Kommunikations- und Informationstechnologien bei, die verstreutes Wissen bündeln können, auch ohne Wikileaks.

„Hätte es das Internet nicht gegeben“, erklärt ein bis heute anonym gebliebener betroffener Ex-Schüler des Canisius-Kollegs, des Auslösers der Missbrauchsskandale hierzulande, „dann hätten wir uns nie vernetzt, einander niemals informiert und gefunden.“ Ähnlich erklären das die Rebellen in Ägypten oder Tunesien. Ohne moderne Massenmedien, wüsste die Welt nicht minutiös Bescheid über die Messwerte nuklearer Strahlung in japanischen Dörfern, niemand könnte die Kinder in den Notlagern sehen, die kaum fassen, wie ihnen geschieht.

Solche Prozesse haben viele Namen, die auf dasselbe hinauswollen, und sich als moderne Begriffe für Aufklärung verstehen, Namen wie multiplizierte Information, globale Vernetzung, Schwarmintelligenz oder kollektiver Erkenntnisschub. Allesamt stehen sie im Kontext der Aufklärung, an deren Beginn sinnbildlich das Licht stand. „Siècle des Lumières“, Jahrhundert der Lichter, Epoche der Aufgeklärten, nennt man in Frankreich die Epoche des Ausstiegs aus der Finsternis des Mittelalters. Gemeint ist das Licht der Vernunft, die sich nicht länger von vermeintlich gottgegebener Hierarchie und Repression in der Umnachtung durch Macht gefangen halten ließ.

Licht, viel Licht, versprechen auch die medialen Scheinwerfer der Gegenwart. Doch Licht allein hilft nicht, denn das Wesen der Verdrängung ist komplex. Verdrängung wird psychoanalytisch verstanden als „Nichtwissenwollen“, als unbewusste Abwehr, von Traumata oder Selbstwertbedrohung. Oft lautet die erste Reaktion auf eine schreckliche Nachricht: „Nein! Nicht möglich!“ Da solche Abwehr nie vollständig gelingen kann, bricht sich das Verdrängte auf anderen Wegen Bahn, und solange es nicht mitsamt seiner Ursachen verstanden wird, bleibt es latent aktiv, kehrt es in anderer Gestalt zurück, „um erkannt zu werden“, ein Prozess, den Sigmund Freud Wiederholungszwang nannte. Daher schützt uns die Informationsflut nicht vor dieser destruktiven Komponente der Verdrängung. Schutz vor der Dynamik des Wiederholungszwangs bieten auch den Großgruppen nur die klare Ursachenanalyse und deren Akzeptanz.

Im richtigen Moment, wenn auch ungeplant, ist jetzt das Heft 123 der in Gießen erscheinenden Vierteljahreszeitschrift „psychosozial“ zur Stelle, das sich kritisch dem Thema kollektive Erinnerung und Traumatisierung widmet – und daher vorrangig der kollektiven Verdrängung, den Tabus. Wer den Stand der Erforschung von Großgruppendynamik besser verstehen will, ist mit dieser Lektüre exzellent beraten; man wünscht, die so- genannten Entscheidungsträger würden, jenseits von Kalkül und Schock, Zeit finden für Nachdenken, wie man es hier findet. Wie sich gesellschaftliche Diskurse um prägende Gruppenerlebnisse wie Traumata organisieren, zeigt der Londoner Gruppenanalytiker Gerhard Wilke in einem besonders hervorstechenden Aufsatz zu „Tätersymptomen der zweiten Generationen“. Wilke, der auch Konzerne bei dysfunktionaler Teamarbeit berät, beleuchtet die deutsche Nachkriegsbevölkerung und deren Grundlagenmatrix, in der „Elemente des sozialen Unbewussten gegenwärtiger und früherer Generationen“ enthalten sind. Subtil, oft stumm und stets unbewusst delegieren vorige Generationen, die den Druck der Erinnerung nicht ertragen, deren Aufarbeitung an die Jüngeren, machen sie zum „Endlager“ eingekapselter Traumata. Unbewusst nimmt die nächste Generation die Aufgabe an, Repräsentanten von Tätern oder Opfern zu werden, und wehrt sie andererseits ab.

So bildete sich zum Beispiel die Studentenbewegung der 68er im Protest gegen die NS-Generation, und „verkörperte anfangs eine gutartige Suche (…) nach adaptiven und hilfreichen Gruppen“. Mit der Wiederkehr des Verdrängten verwandelte sich die Bewegung „unversehens in eine Neuinszenierung des politischen Sektierertums der Weimarer Republik“, das die Diktatur produziert hatte. In der Endphase formierte sich stellvertretend eine Terrorsekte, die RAF. Staat wie Sekte reinszenierten daraufhin symbolisch „Symptome des NS-Extremismus“.

Gleichwohl, hält Wilke fest, ist diese Episode bis heute Anlass für tieferes Durcharbeiten der Vergangenheit und beförderte den Reifungsprozess der Zivilgesellschaft. Schweigen, Tabus, die Furcht vor unerträglicher Erinnerung, Schuld und Scham befördern bei Individuum wie Gruppe Regression und Wiederholungszwang. Aus dieser Perspektive könnte man sogar die Deutung wagen, Japans auf so verblüffende, offenkundige Weise hochriskantes Potenzial „verdrängende“ Kernenergieplanung könnte unbewusst die Wiederholung einer Atomkatastrophe, die Reinszenierung der nicht vollends durchgearbeiteten Traumata von Hiroshima und Nagasaki 1945 provoziert haben.

Vielen Zeitgenossen wird schon ein solcher Deutungsansatz zu weit gehen. Vielleicht können wir uns aber der Frage öffnen, warum sich die Öffentlichkeit so oft dem Katastrophenvoyeurismus hingibt, aber Debatten zur Genese menschgemachter Desaster gern auf halber Wegstrecke abbricht.

Kommt alles ans Licht? Was für ein Licht wäre das? Jeder Abschied von der Verdrängung braucht den Mut zu erkennen, welche Liaison Dunkelheit und Lichtscheu miteinander eingegangen waren. Den Scheinwerfern und Blitzlichtgewittern, deren Energiequelle die Massenmedien sind, fehlt viel zu oft die wirksamste Komponente ethischer Aufklärung. Ihr geht es darum, die Genese der Schatten zu verstehen.

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