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Schiffbrüchige vor der Küste Libyens

© Bundeswehr/Gottschalk/dpa

Kolumne: "Flugblätter": Wut auf Europa

Drei Publikationen, ein Thema: Die die heikle Frage nach dem Eigenen und dem Fremden wird überall diskutiert - Migration und Asylpolitik stehen dabei im Mittelpunkt.

Von Caroline Fetscher

Anlass gibt es genug für ein zorniges Manifest. Heribert Prantl hat es geschrieben. „Im Namen der Menschlichkeit. Rettet die Flüchtlinge!“ heißt es und ist so kurz und kompakt wie kraftvoll. Man kann es auf einer längeren U-Bahnfahrt lesen und will danach jedem Politiker ein Exemplar schenken (Ullstein, Berlin 2015, 32 S., 3,99 €) – vielleicht am 20. Juni zum Weltflüchtlingstag. Im Mittelmeer gehen mit den Schiffen ganze Familien auf der Flucht unter. Im Maghreb, im Mittleren Osten ist Frieden ein Fremdwort. Südlich der Sahara verwandelt sich Abfall aus Industrienationen zur wirtschaftzerstörenden Ware. Deshalb machen sich Abertausende auf in bessere Regionen des Planeten. Der wohlhabende Staatenverbund aber schottet sich ab, er lässt gar Menschen – zur Abschreckung? – ertrinken.

Prantls Streitschrift prangert diese unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge als eine Form des Massenmords an. Zu Recht beklagt der Autor den aberwitzigen „Menschenverschiebebahnhof“ Europas in der Asylpolitik, ersonnen von einem tanzenden „Bürokratiemonster“. Ebenfalls aus dem Jenseits der Menschlichkeit stammt der Irrwitz von Europas „Mobilitätspartnerschaften“. Sie bedeuten: Nordafrikanische Partner der Europäischen Union halten „uns“, freilich gegen Bezahlung, die mobilen Fremden, die anderen vom Hals. Prantls Text skizziert die zeithistorischen Schlüsseldaten und fatalen Fehlentscheidungen der Asylpolitik. Sein Manifest wider den unhaltbaren Status quo mündet in eine Liste der Forderungen zur Reform. Er verlangt etwa das Ende der Residenzpflicht, das Streichen der Dublin-II-Verordnung. Nicht zuletzt richtet Prantl den Appell an Europas Christen, in ihrer Bibel „das Flüchtlingsbuch“ zu erkennen. Den Mut dazu könnte dieses Manifest durchaus wecken.

Reflexion über Identität und Gastfreundschaft

Woher aber rührt die Abwehr von Zuwandernden, Fremden? Wie entstehen angstbewehrte Grenzen? Präzise und sprachlich elegant klärt Helmut Dahmer darüber auf in „Xenophobie und Gewalt“, einem der Essays in seinem Buch „Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert“ (Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 92 S., 14, 90 €). In Sorge, mit Weisheit arbeitet Dahmer für das Wiedergewinnen der politischen Dimension seiner Fächer, Soziologie und Psychoanalyse. Ungelöste Aufgaben früherer Generationen würden „den Folgegenerationen kodiert weitergegeben“. Etwa die dysfunktionale Vorstellung, eine Gesellschaft befreit von Heterogenität und Pluralität wäre im Glück. Vorurteile, Ängste, sämtliche kulturellen Handlungsmuster sind so erlernt wie auch revidier- und optimierbar .

Dahmers Plädoyers für diese Erkenntnis loten tief und lesen sich trotzdem klar, erklärend, klärend. Was wäre jetzt das Konstruktivste? Ohne Zweifel braucht die Gesellschaft der Gegenwart Daten, Fakten und Chancen zur Reflexion über sich und die anderen, das Eigene und das Fremde. Sie braucht Aufschluss über ihre als bedroht empfundene Identität, über Gastfreundschaft und deren Grenzen.

Im Kern ist gute Politik Humanität

Seit 1998 gab es eine tolle Quelle zum Thema, den verlässlich-anregenden Newsletter „Migration & Bevölkerung“, ein „Onlineportal zur Migrationsgesellschaft“. Gegründet am Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft der Berliner Humboldt-Universität, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, erschien der Newsletter zehnmal im Jahr und lieferte Hintergrund, juristischen, statistischen, analytischen. Das Archiv ist öffentlich zugänglich.

Absurderweise läuft die Förderung für diesen Newsletter gerade jetzt aus, da das Thema so viele Debatten dominiert. Aber vielleicht, das hoffen die leitenden Redakteure Vera Hanewinkel und Thomas Hummitzsch, war die Ausgabe vom Juni 2015 doch nicht die letzte.

Vielleicht wacht die Vernunft der Verantwortlichen wieder auf. Das würde im Jahr vermutlich etwa so viel kosten, wie unlängst die Blumengestecke auf Schloss Elmau beim Gipfel der großen Sieben. Nichts gegen solche Gipfel. Doch das Elixier guter Politik ist Humanität, für die es den Willen und die Mittel braucht. Auch die Mittel zum Gewinn von Erkenntnis.

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