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Hingegeben. Svetlana Sozdateleva singt die Rolle der Renata.

© Iko Freese / drama-berlin.de

Komische Oper: Im Schatten junger Mädchenblüte

Der Regisseur Benedict Andrews und der Dirigent Henrik Nánási bringen Sergej Prokofjews „Der feurige Engel“ auf die Bühne der Komischen Oper. Der Abend wird zu einem spannenden Plädoyer für ein selten gespieltes Stück.

Renata war ein Kind, acht Jahre alt, da zeigte sich ihr in ihrem Zimmer ein Engel. Eine Erscheinung im Sonnenstrahl, weißes Gewand, die Augen von himmlischer Bläue, seine Locken gesponnen aus reinem Gold. Dies Erlebnis reißt ihr den Boden der Realität unter den Füßen weg. Sie wird eine Besessene, die ihrer visionären Jugendliebe nachjagt, dem feurigen Engel Madiel. In ihrer Seele aber kämpft sie einen Krieg mit Dämonen und hat solche Angst, dass sie in der ersten Szene der Oper nur so schreit gegen die vermeintliche Attacke eines Unholds. Im Nebenzimmer eines ärmlichen Gasthofs wird ein Schläfer auf sie aufmerksam. So ereignet sich die Exposition des „Feurigen Engels“ von Prokofjew, Musik aus Rhythmus, Repetition und Kantilene.

Mit bewundernswerter Hingabe und stimmlicher Intensität versenkt sich die Russin Svetlana Sozdateleva in die Situation der ekstatischen Frau. Sie beherrscht ihre abendfüllende Rolle barfüßig in kurzem Hemd mit ungewöhnlicher Gewandtheit und Fitness.

Und der australische Regisseur Benedict Andrews malt die Wunder des selten aufgeführten Stücks in der Komischen Oper Berlin voll eindringlicher Fantasie aus. Johannes Schütz hält die Drehbühne mit grauen Stellwänden und Requisiten von der Mülltonne bis zum Benzinkanister für das letale Ende der Heldin so wandelbar wie irgend erdenklich. Er belebt eine Szene, auf der sich Kreis um Kreis ziehen lässt und wunderbare Flammen züngeln. Denn eine Opernheldin ist sie durchaus, diese hysterische Renata mit der singulären Ausstrahlung. Was waren das für Nächte, in denen der Engel mit dem Kind das Lager geteilt hat?

Das ist das Geheimnis, dem die Inszenierung (Dramaturgie: Pavel B. Jiracek) sich stellt. Ruprecht, ein ritterlicher Abenteurer und ihr Zimmernachbar, dessen Name ihr schon bekannt ist, als sie ihn zum ersten Mal sieht, hört sich ihre Geschichte an und verliebt sich spontan in Renata. Er will sie küssen, umfasst sie, und es entsteht ein Ringen zwischen beiden, das Benedict Andrews wie vieles andere als sicheren Personenregisseur erweist. An der Stelle rasen in der Partitur fortissimo die Sechzehntel. Renata aber stößt Ruprecht von sich.

Als Kind habe sie mit Madiel gespielt, erzählt sie ihm arios, er sei auch in Gestalt von Schmetterlingen und Blumen zu ihr gekommen, wollte sie zu einer Heiligen machen. Als sie später auch körperliche Liebe von ihm ersehnt, verschwindet er. Sie glaubt ihn wiederzuerkennen in dem Erdenmenschen Graf Heinrich, der aussieht wie Madiel.

Die Zeit eines „paradiesischen Sündenfalls“ auf seinem Schloss endet so abrupt, wie die manische Suche des verlassenen Mädchens nach ihm beginnt. Sie wird zur Lebensreise von Renata und Ruprecht, der ihr hörig ist und sich als Retter fühlt. Evez Abdulla verkörpert rührend seine Leidenschaft. Ein kaputtes Paar, sagt der Regisseur.

Der Roman des russischen Symbolisten Waleri J. Brjussow, der Prokofjews eigenem Libretto streckenweise wörtlich zugrunde liegt, gibt sich als Aufzeichnung Ruprechts über seine Erfahrungen mit der exaltierten Renata. Es ist spannende Lektüre, weil der Erzähler gesteht, dass ihm das Vermögen abhandenkommt, die gewöhnlichen und die übernatürlichen Dinge auseinanderzuhalten.

In surrealistischer Vervielfältigung lässt der Regisseur die Personen auftreten, viele Männer um die Betten kleiner und größerer Mädchen.

Gekleidet wie Ruprecht und Renata, ersetzen die Doubles zugleich erstaunlich lautlos die Bühnenarbeiter (Kostüme: Victoria Behr). Wirtin (Christiane Oertel), Knecht (Hans-Peter Scheidegger) und Wahrsagerin, eine Super-Blondine mit Best-Model-Lächeln (Xenia Vyaznikova), sind Leute von heute, da die Inszenierung sich das 16. Jahrhundert der Vorlage erspart.

Indessen spukt als falscher Engel/Graf Heinrich schon Jens Larsen stumm durch die Handlung, dessen Basstiefe zum Schluss, unterstützt von instrumentalen Oktaven, für die Autorität des Inquisitors steht. Dämonen klopfen an der Wand, und da Renata aus den Signalen schließt, dass ihr Graf Heinrich wiederkehrt, zieht sie das rosa Kinderkleidchen an, das sie wie eine Reliquie der Erinnerung an den Engel aufbewahrt. Dies sind die empfindsamen inszenatorischen Momente um die Kindfrau, die zugleich nymphoman und seltsam keusch erscheint, espressivo ihren Madiel besingt und ihren anhänglichen Ruprecht beschimpft und ins Freudenhaus schicken will.

Werktreu liegt sie im Kloster büßend am Boden und kann nicht umhin, auch noch die Nonnen in Scharen mit ihrer Besessenheit anzustecken. Vor allem der Frauenchor der Komischen Oper (Einstudierung: David Cavelius) ist hoch zu loben, in seiner Präzision von dem Chefdirigenten Henrik Nánási und dem Orchester sorgsam getragen.

Mephistopheles taucht auf mit einem verblüffenden Theatertrick, Menschenfleisch fressend. Ebenso auch, umgeben von Skeletten und Hunden, der historische Schwarzmagier und Hexenmeister Agrippa von Nettesheim, glitzernd wie ein Revuestar: zwei Leute, deren Neigung zu Geheimwissenschaften bekannt ist, beide teuflisch gut gesungen von dem Tenor Dmitry Golovnin.

Und wenn die Regie derweil eines der kleinen, stummen Renata-Mädchen an den Tisch zu Doktor Faust (Alexey Antonov) setzt, darf in diesem Reich des Übersinnlichen befürchtet werden, dass daraus ein unglückliches Gretchen wird.

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