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Kommentar: Das Los ist die Lösung

Warum Steuern nerven, moralische Appelle verhallen und nur eine fantasievolle Reform hilft. Florian Felix Weyh siniert über die bundesdeutsche Steuerkrise und findet interessante Auswege.

Die Geschichte beginnt in Bochum. Nicht im Februar 2008 mit der Arbeit emsiger Staatsanwälte, sondern 1893 im Lande Preußen. Zwei Jahre zuvor hatte man die Einkommensteuer eingeführt, und es dauerte nicht lange, bis es zu ersten Verstößen kam. So ging der „Bochumer Steuerprozess“ von 1893 in die Annalen ein, weil er schon zu Beginn der Steuermoderne zeigte, wie schwer sich der Staat bei der Erhebung einer personalisierten Leistungssteuer tat. Sämtliche wohlhabenden Angeklagten hatten erheblich zu tiefe Einkommen angegeben und fanden vor Gericht bizarre Ausreden. Einer etwa führte unumgängliche Repräsentationskosten auf, die man von seinen Einkünften abziehen müsse, und schuf damit eine populäre Denkfigur des 20. Jahrhunderts: den Drang zu Luxus und Konsum als steuermindernder Lebensnachteil. Doch wie viel Geld wollte der preußische Staat von seinen betuchten Bürgern eigentlich haben? Zwischen einem und vier Prozent ihrer Einkünfte.

Gier ist ein dehnbarer Begriff. Wenn heutige Manager als gierig gelten, weil sie ein Zigfaches der damaligen Steuerforderung zu umgehen suchen, was waren dann die Bochumer Honoratioren 1893? Selbst der Vorwurf der Asozialität erscheint in dieser Relation schwach. Der Blick auf die Geschichte zeigt ein permanentes Wechselspiel von staatlicher Steuererhebung, privater Steuervermeidung, staatlicher Steuererhöhung, intensivierter privater Steuervermeidung - Ende unabsehbar. Um die Höhe geht es dabei nie, sondern um den Tatbestand als solchen.

Im Mittelalter gab man das jeweils schwächste Schwein jedes Wurfs als zehnten an den Klerus ab, weswegen sich in manchen englischen Dialekten noch ein spezieller Name für dieses „Sparschwein“ gehalten hat. Der französische Staat etablierte im 19. Jahrhundert eine Zeitungssteuer pro Seite, die umgehend dazu führte, dass überdimensionale Ein-Blatt-Zeitungen entstanden. Der Siegeszug der Dampflokomotive in Großbritannien verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass Futtermittelimporte für Ochsen und Pferde hoch besteuert wurden, die einheimische Kohle hingegen nicht. Wer schließlich während der deutschen Hyperinflation 1923 schmerzliche Finanzamtspost bekam, strengte selbst in aussichtslosen Fällen einen Prozess an, weil am Ende des langen Streits die Steuerschuld komplett entwertet war; die Gerichtsgebühren bezahlte er dann ebenfalls aus der Portokasse.

Nichts regt die Kreativität mehr an als der Wunsch, Steuern zu vermeiden. Darum nützen normative Ethiken wenig, solange sie sich nicht den anthropologischen Gegebenheiten fügen. Als Dreh- und Angelpunkt erweist sich dabei das Eigentum. Genauer: das Eigentumsempfinden. Was mir gehört, verschmilzt mit meiner Identität, und jeder Versuch der Fortnahme fühlt sich wie ein Angriff auf die persönliche Integrität an. Der amerikanische Wirtschaftspsychologe Barry Schwartz nennt das den „Besitztumseffekt“, und da dieser zu unserer Sandkastensozialisation gehört („Meine Schaufel ist nicht deine Schaufel“), hat ihn schon jeder am eigenen Leib erfahren. Gier als treibende Kraft der Steuerhinterziehung erscheint demnach eher als Abwehrwunsch äußerer Angriffe denn als gesteigertes Konsumbegehren. Dem Staat fällt dabei immer der Schwarze Peter zu. Kann er bei der Lohnsteuer noch auf ein psychologisches Brutto/Netto-Verwirrspiel setzen, fordert er bei der Einkommensteuer das Scherflein lange nach dem Eigentumserwerb. Das sorgt für böses Blut.

Wann wechselt überhaupt etwas den Besitzer? Nun, beim Tausch, bei der Schenkung und – erzwungenermaßen – beim Raub. Die einzig konfliktfreie Option ist die Schenkung, doch wie man’s dreht und wendet, ins Steuermodell will sie sich nicht fügen. Ob Raub oder Tausch besser passen, hängt von der Perspektive ab. Fiskaltheoretiker apostrophieren den erzwungenen Eigentumsübergang gerne als Tausch: Individuellen Abflüssen wird ein kollektiver Zufluss gegenübergestellt (Sicherheit, Bildung, Verkehr, Rechtsstaatlichkeit), wobei Transfergelder zur Wahrung des sozialen Friedens aus dem Modell schon ausgeklammert sind. Je mehr Steuern einer bezahlt, desto schiefer muss ihm dieses Denkgebäude jedoch vorkommen. Denn mehr als einmal pro Zeiteinheit kann er die Infrastruktur nicht nutzen, die er aber vielfach bezahlt. Zu weiten Teilen braucht er sie als Reicher nicht einmal, weil er sich parallele Privatstrukturen leistet, etwa in der Bildung.

Das Tauschargument greift also bei denjenigen besonders schlecht, die besonders viel in den Topf einzahlen sollen. Ihr via Steuerbefehl gestörtes Eigentumsempfinden tendiert zur Zuschreibung des Raubes, und das hat lange Tradition. Bereits im 13. Jahrhundert finden sich entsprechende Disputationen bei Thomas von Aquin, und viele seiner Nachfolger haben sich mit dem Kasus Steuern von dieser Warte aus befasst: Wie verwandelt man das empfundene Unrecht der Wegnahme irgendwie in einen positiven, zu billigenden Vorgang? Die Lösung steht bis heute aus. Von den Eliten einen Rollenwechsel zwischen erwünschtem, weil Wachstum treibenden Eigennutz und altruistischem Gemeinsinn zu erwarten, bleibt wohl naiver Utopismus: Spagat ist eine Zirkusnummer, keine Lebenshaltung. Folglich praktizieren die heutigen Eliten seit Jahrzehnten heimlich, was ihre historischen Vorgänger noch öffentlich tun konnten: das Adelsprivileg der Steuerfreiheit genießen. Im Bewusstsein ist jeder Dax-Manager ein Marquis.

So bleiben nur drei Auswege. Der erste ist abstrakter Natur, weil er die Psyche nicht erreicht: Neben Tausch, Schenkung und Raub sei die Steuer als vierte Naturkategorie des Eigentumsübergangs anerkannt. Wie man das ohne gentechnische Hirnveränderung des Menschen hinbekommt, bleibt fraglich. Der zweite ist praktikabler: Personalisierte Steuern, die das Eigentumsempfinden frontal provozieren, werden durch indirekte Konsumsteuern wie Luxus- und Umsatzsteuern ersetzt. Das schlägt nicht nur der Unternehmer Götz Werner zur Finanzierung seiner Grundeinkommensutopie vor, es gehört zum Urbestand fiskalischer Debatten seit 150 Jahren.

Der dritte - fantasievollste! - Ausweg schließlich löste alle derzeitigen Probleme elegant. Im amerikanischen Unabhängigkeitskampf sann Benjamin Franklin nach einer Möglichkeit, an Geld für Waffen zu kommen. Da der Grund für den Aufstand der Amerikaner gegen die Briten gerade in deren Steuerpolitik lag, konnte er schlecht für eine „Befreiungssteuer“ oder Ähnliches plädieren. Stattdessen legte er eine Lotterie auf, von deren Erlös ein Siebtel zum Waffenkauf verwendet, der Rest an die Teilnehmer wieder ausgespielt wurde. „Die Lose waren schon nach kurzer Zeit ausverkauft“, berichtet Franklin-Biograf Edmund Morgan, „und die Miliz legte schon bald Batterien am Ufer des Delaware an.“

Schon heute sorgen staatliche Lotterien für einen großen Teil der Kultur- und Sportförderung, und es steht nichts dagegen, alle personalisierten Steuern mit angehefteten Losen vom Makel des gefühlten Raubes zu befreien. Wo der Wegnahme eine Gewinnchance gegenüberstünde, liefe die Tauschbehauptung nicht länger ins Leere. Gerade Wohlhabende, die sich auf die unsinnigsten Wetten an der Börse einlassen, sind für derartige Spiele empfänglich. Zumal sich hier die Progression zugunsten des willigen Steuerzahlers auswirkt: Wird jeweils eine bestimmte Summe mit einem Los belohnt, wächst auch die Gewinnwahrscheinlichkeit bei höheren Steuerzahlungen. Das spornt zur Ehrlichkeit an. Gewiss, Niedrigverdiener haben automatisch weniger Gewinnchancen - aber was soll denn die Politik nun wollen: Durch ein Verlockungsmodell Geld in die Kassen holen, auf das sie heute mit seinem Drohmodell verzichten muss – oder das Verlockungsmodell von vornherein ausschließen, weil es einem Klischee von „sozialer Gerechtigkeit“ widerspricht?

Mit leeren Kassen, so viel steht fest, ist gar kein Staat zu machen.

Der Autor lebt als Publizist in Berlin. Im Eichborn Verlag erschienen von ihm zuletzt die Bücher „Vermögen“ und „Die letzte Wahl - Therapien für die leidende Demokratie“ (www.weyhsheiten.de).

Florian Felix Weyh

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