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Kultur: "Komser Sekspir": Schneewittchen und die Straßenzwerge

"Jawoll", ruft der Kommissar zackig, erhebt sich vom Schreibtischstuhl und legt die linke Hand an die Hosennaht. In der rechten hält er den Telefonhörer, in den er jetzt noch "Zu Befehl, Herr Hauptkommissar" hineinbrüllt.

"Jawoll", ruft der Kommissar zackig, erhebt sich vom Schreibtischstuhl und legt die linke Hand an die Hosennaht. In der rechten hält er den Telefonhörer, in den er jetzt noch "Zu Befehl, Herr Hauptkommissar" hineinbrüllt. Dann legt er ihn energisch auf die Gabel und schaut sich grimmig um. Vor seinem Schreibtisch stehen junge Männer. Der Kommissar tritt auf sie zu und verteilt wahllos Ohrfeigen. Dass es nicht nur die frisch Verhafteten, sondern auch einen Kellner trifft, der gerade Tee bringt, stört ihn nicht: Wer will ihm etwas vorwerfen?

Die brutale Szene stellt nicht nur den Titelhelden von "Komser "Sekspir" vor, sondern kritisiert nebenbei den Alltag auf türkischen Polizeiwachen. Schläge werden dort, wie man hört, prophylaktisch verteilt - unabhängig vom Grund der Verhaftung, der Identität des Häftlings oder gar dessen Schuld. Überhaupt passiert alles Wichtige in "Komser "Sekspir" nebenbei, als Begleiteffekt der an Schneewittchens ebenholzschwarzen Haaren herbeigezogenen Haupthandlung: Als der Kommissar erfährt, dass seine Tochter Su an Leukämie erkrankt ist und nur Lebensfreude ihren Tod hinausschieben kann, erfüllt er ihr einen Herzenswunsch: einmal Schneewittchen zu sein. Folglich stellt er ein Laienensemble zusammen - auf der Wache, wo er vorübergehend das Sagen hat. Schnell wird ein Bettler zum Prinzen, ein Demonstrant zum Jäger, eine Prostituierte zur bösen Stiefmutter. Für die Zwergenrollen lässt der Kommissar ein paar Straßenkinder einsammeln.

Unter der Regie des ehemaligen Kinderstars Tatü wird nach einer Disney-Version des Grimmschen Märchens geprobt, und nicht nur die zuschauenden Polizisten werden plötzlich weich, sondern auch der eher aus Versehen inhaftierte Unterweltkönig Danyal, der spontan die Produktion finanziert. So können Kulissen und Kostüme beschafft werden, und schon ist die Teilnahme an einem Talente-Wettbewerb gesichert.

Sinan Çetin - in Deutschland bekannt durch seinen Film "Propaganda" - ist ein Protagonist des anspruchsvolleren türkischen Mainstream-Kinos. Meisterhaft versteht er es, sein Publikum zugleich zum Weinen und zum Lachen zu bringen. Dabei scheut er weder Kitsch noch Pathos. Die Schneewittchen-Proben entwickeln sich zum Welttheater, in dem weit mehr als Generationen- und Geschlechterkonflikte thematisiert werden: die hierarchischen Strukturen innerhalb der Gesellschaft, die Verehrung Kemal Atatürks, die Verstrickungen von Großkapital, Politik und organisiertem Verbrechen, die Selbstherrlichkeit der Polizei und ihr Umgang mit den Menschenrechten und schließlich sogar die Rolle des Fernsehens.

Sinan Çetin tritt schließlich selbst als Intendant des Senders auf, der von Spezialeinheiten gestürmt wurde, weil der kunstsinnige Kommissar inzwischen als Terrorist gilt. Er bittet die Soldaten um einen Aufschub: Die Öffentlichkeit solle entscheiden, ob die Aufführung von "Schneewittchen", die zu einer Art Therapie für alle Akteure geworden ist, weitergehen darf. Das Studiopublikum sieht sich zu Beifall animiert, der sich bald in der ganzen Stadt fortsetzt. Die Soldaten unterbrechen ihren Einsatz und wischen sich verstohlen die Augen. Ein Sieg, nun ja, weniger der Kunst als wohl des Kommerzes über die Staatsgewalt: Sinan Çetin dreht auch viele Werbespots.

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