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Konjunktur: Einkauf der Anständigen

Shoppen gegen die Krise: Nie war der Kaufakt so wertvoll wie heute. Vom Wesen des Geldes und der bürgerlichen Pflicht es auszugeben.

Von Caroline Fetscher

Im Foyer des großen Warenhauses ist der Wald ausgebrochen. Still schnuppern weiße Rehkitze an schneebehangenen Tannenspitzen, üppige Pilze schießen meterhoch in Richtung Kaufhauskuppel, eine Futterkrippe birgt Heu und apfelrote Weihnachtskugeln. Eulen blicken aus dem Astwerk stoisch auf die Käuferschar herab, die das Berliner Kaufhaus des Westens zu Tausenden anzieht. Verheißungsvoll leuchten bunte Kristalle zwischen den Zweigen. Auf einem grünen Polstersessel thront der Weihnachtsmann, der gütig auf das Treiben blickt. „Kauft, Kinder, kauft!“ scheint er zu rufen.

Wer kauft, gehört dazu. Und wer Geld ausgibt, erhält die Welt, so das Credo dieser Tage. Um die Konjunktur zu retten, hatte die Bundesregierung sogar erwogen, der Bevölkerung Konsumgutscheine zu schenken, als Weihnachtsschecks gewissermaßen. Dazu kam es nicht, aber gekauft wird trotzdem: Anders als in den USA ist das Weihnachtsgeschäft wie im Vorjahr ausgezeichnet gelaufen.

In Scharen drängen die Kaufwilligen also auch in der Krise durch den Haupteingang zur Waldinstallation, die Dekorateure nach dem Vorbild märchenhafter Bühnenbilder geschaffen haben, und eilen schnell weiter zu den Gabentischen, auf denen die wahre Ware wartet. Etwas von dem zauberischen Flair sollen sie aus dem Warenhauswald mitnehmen auf ihren Weg zu den Parfums, Cremes, Uhren, Anzügen, Schuhen, Digitalkameras, Kaffeemaschinen, Juweliervitrinen, Spirituosen, Kaschmirschals, Playstations und Netbooks und Notebooks und Tonträgern und Bildträgern.

„Weihnachten ist immer noch ein Fest, wo die Leute sich ein Stück weit von der Realität entfernen und sich etwas gönnen“, erklärte der Leiter einer Karstadt Filiale in einem Zeitungsinterview kurz vor Heiligabend. Sich etwas gönnen: das ist Kaufen jenseits der Notwendigkeit.

Der Kaufakt generell trägt Züge einer Zauberei. Als Mittler zwischen dem begehrten Gegenstand und dem Käufer kommt das Geld zum Einsatz, das auf magische Weise Wünsche erfüllt. Im „Timon von Athen“ schilderte Shakespeare, was „kostbar, flimmernd, rotes Gold“ vermag. Es könne, staunte Shakespeare, das Schwarze weiß machen, das Hässliche schön, das Schlechte gut und das Alte jung, das Niedrige edel. Geld macht sexy, heißt es im Jargon von heute. Hat er Geld, kann sich der unattraktive Mann eine schöne Frau leisten, und umgekehrt führt Geld „der überjähr’gen Witwe Freier zu“, wie Shakespeare bemerkte.

Diesen verblüffend verwandelnden Charakter hat das Kaufenkönnen, die Kaufkraft nicht verloren. Der Neurotiker kauft sich das Ohr des Therapeuten, der Langeweiler wie der Gelangweilte den Dienst des Entertainment, der Schwache erwirbt sich Stärke, indem er sich einen Porsche zulegt. Schon Goethe ließ Mephisto im „Faust“ von Pferdekräften schwärmen: „Wenn ich sechs Hengste zahlen kann / Sind ihre Kräfte nicht die meine? / Ich renne zu und bin ein rech ter Mann / Als hätt’ ich vierundzwanzig Beine.“ Unglaublich! Die Kutsche fliegt durch die Alleen – auch Tempo kann man sich mithilfe des Kaufakts herbeizaubern.

Beide Zitate, von Shakespeare wie von Goethe, hatte Karl Marx für seine Theorie entdeckt und sie in seinen Ökono misch philosophischen Manuskripten zum Ausgangpunkt seiner Betrachtung zum Geld gemacht. Das Geld besitzt die Eigenschaft, sich gegen alles eintauschen zu lassen – daher der Marx’sche Begriff vom „allgemeinen Äquivalent“ – und demonstriert so die „Allmacht seines Wesens“. Geld ist, stellte Marx fest, der Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand, zwischen dem Menschen und dem, was er zum Leben braucht. Im Geld als dem zentralen Symptom kapitalistischer Systeme zeichnet sich für Marx deren zentrales Dilemma ab. Denn wenn Geld alle Bande lösen und knüpfen kann, dann ist es „das wahre Bindungsmittel, die chemische Kraft der Gesellschaft“.

Trefflich habe Shakespeare, fand Marx, herausgearbeitet, wie das Geld alle menschlichen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil verkehren kann. Und dieser Stoff, der sich ohne Ansehen gegen alles tauscht, ist „die allgemeine Hure, der allgemeine Kuppler der Menschen und Völker“, denn Geld „zwingt das Widersprechende zum Kuß“. Darum auch hinkt sein Zauber, er hat eben den einen teuflischen Pferdefuß: „Was mir aber mein Leben vermittelt, das vermittelt mir auch das Dasein der andren Menschen für mich. Das ist für mich der andre Mensch.“ Wo das Geldkaufsystem alles durchdringt, wird der andere mir Mittel zum Zweck. Seine Arbeitsleistung, ob physisch oder schöpferisch, nimmt die Form einer Ware an. Egoismus steht Egoismus gegenüber, Kalkül und Ausbeutung sind die Motoren des Spiels. Ein brauchbareres Tauschmittel hat bisher allerdings keine moderne – und schon gar nicht die globale – Gesellschaft erfunden.

Während man am Jahresende durch die bezaubernden Warenhäuser schlendert, statt Taler oder Goldmünzen die Kreditkarte in der Tasche, die Geld unsichtbar macht und trotzdem dessen ganzes Potenzial enthält, sitzt in New York ein verhafteter Mann und denkt über fünfzig Milliarden Dollar seiner Kunden nach, die er, bis vor wenigen Wochen eine Kapazität an der Wall Street, verzockt hat. Mit der verführerischen, saisonunabhängigen Realitätsferne des virtuellen Geldes hatte Bernard Madoff das Vertrauen der Schönsten und Mächtigsten gekauft, von Steven Spielberg bis zu den Scheichs in Abu Dhabi. Aber er hatte lediglich auf „Fantastrilliarden“ gesetzt, wie Dagobert Duck sie hingerissen nennt, Geld, das es nur in der Fantasie gibt, auf dem Papier. Tragödien, wie sie die mit windigen Immobilienfonds spielenden Banken im Kollektiv auslösten, gelangen ihm als Unternehmer ganz allein. Die Krise der vielen zerrt auch die der Einzelnen ins Licht – nun hat Bernard Madoff Hunderte von Tragödien zu verantworten.

Und jetzt, hören wir, seien wir alle, die anständigen Bürgerinnen und Bürger in der Pflicht, denn das Geld und sein Gegenwert müssen wieder real werden. Das System braucht neuen, festen Boden. Durch anständige Arbeit in einem Sektor der Gesellschaft verdienen wir anständiges Geld und sollen damit die Produkte anständiger Arbeit aus einem anderen Sektor der Arbeitswelt erstehen. Wir müssen das Finanzsystem retten, nicht nur als ehrliche Steuerzahler, sondern als eifrige Käufer. Das ergibt ein neues Wunder! Marx steht Kopf. Kaufen ist in den Zeiten der Krise nicht länger ein selbstsüchtiger Akt der Besitzaneignung. Nein, Einkäufe sind jetzt soziale Akte. Soll die Geldwirtschaft nicht stagnieren und kollabieren, muss ihr Motor laufen, muss das Geld im Feld des Vertrauens zirkulieren. Der Einkauf der Anständigen soll für das System bürgen.

Wenn das Geld sprechen könnte, dann würde es am Jahresende etwa Folgendes zu den Konsumenten sagen: „Liebe Bürginnen und Bürgen! Ein turbulentes Zweitausendacht lassen wir da hinter uns, und selten war Weltwirtschaft so spannend. In den Aktienstatistiken, Börsenkurven, Milliardenspekulationen, Crashprognosen, Wertpapierpreisen, Finanzmarktschwankungen, Geldströmen, überall stecken packende Thriller. Es ist was los auf dem bebenden Parkett der Gegenwart, und Sie, liebe Bürginnen und Bürgen, haben es in der Hand, dass sich alles zum Guten wendet. Geben Sie mich aus! Alle Räder dreh’n sich wieder, denkt der Bürger nicht zu bieder! Kaufen ist sozial, vernünftig, demokratisch, ja Pflicht! Mit jedem Cent tun Sie ein gutes Werk.“

Anstatt sich an die Münzen und Scheine zu klammern, die ohne Gegenwert doch nur ein Stück Metall sind, anstatt also in Kleinmut zu sparen, sollen wir ausgeben, damit andere einnehmen, die wiederum etwas ausgeben und von denen wir dann wiederum etwas einnehmen. Geld regiert die Welt? Eher: Was wir damit anstellen, bestimmt den Lauf der Dinge. Alle Zeitgenossen machen jetzt buchstäglich einen Crashkurs in Makro- und Mikroökonomie. Das ist eine der Chancen dieser globalen Krise. Gelernt wird dabei vor allem sinnvolles Misstrauen in Fantastrilliarden aller Art und Einsicht in den alten Spruch eines Antikapitalisten. Der endet mit den Worten: „Kontrolle ist besser.“

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