zum Hauptinhalt
Immer gut verkabeln. Drei Geheimagenten auf einem im April 2014 im britischen Cheltenham entdeckten Wandgemälde, das vermutlich von dem Streetart-Künstler Banksy stammt.

© Neil Munns/dpa

Kontrolle und Gesellschaft: Alles hören, alles sehen

Vom Auge Gottes zur NSA: Was ist Wahn und was ist Wirklichkeit in der Geschichte der Überwachungsszenarien? Eine kulturelle Spurensuche.

Von Caroline Fetscher

Allmählich mausert er sich zur Kultfigur einer diffusen Szene. Empörte Amerikaskeptiker zählen zu seinen Fans, verängstigte Freiheitsfreunde, Kritiker der Big-Data-Sammelsucht von „Big Brother“ USA, Paranoiker wie besorgte Bürger. Edward Snowdens Porträt wird auf T-Shirts gedruckt, unlängst bekam er zwei deutsche Preise für Zivilcourage verliehen. Doch der global bekannte Datendieb weigert sich, in Moskau mit deutschen Vertretern des NSA-Untersuchungsausschusses zu sprechen, und die Bundesregierung mag ihm für eine Vernehmung hierzulande keinen Aufenthaltstitel geben.

Anstelle von Snowden will diese Woche der ehemalige US-Agent Thomas Drake dem Ausschuss heikle Details verraten. Können abtrünnige US-Geheimdienstleute wirklich Erhellendes aussagen über Millionen von Daten, die kein Einzelner im Detail kennen kann? Bekämpfer von Datenkraken wirken jedenfalls so cool wie einst die Drachentöter.

Verstärkt wurde der Hype um Snowden durch ein altes Phantasma, die von Angst, Sehnsucht und Faszination besetzte Vorstellung, dass irgendwo eine Instanz existiert, die „alles sieht“. Ihre Ursprünge liegen im Religiösen, in der Vorstellung von allwissenden Göttern und deren Schutz, Strafe oder Lohn. Auf dem Weg zum modernen Staat und seiner Überwachungstechnologie hat sich die im Kern wahnhafte Idee, universelle Kontrolle sei möglich, ins Gesellschaftliche transformiert.

Goethes "Turmgesellschaft"

Ein schönes frühes Beispiel liefert „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von 1794. Aus Goethes Held, dem verträumten Wilhelm, soll ein Geschäftsmann werden. Vom Vater auf eine Handelsreise geschickt, streunt der junge Mann umher und begeistert sich für das Schauspiel, eine Zirkustruppe und Liebeshändel, nur nicht für Geld und Gewinn. Am Ende aller Irrungen und Wirrungen erfährt Wilhelm etwas Verblüffendes: Wo immer er war, in Gasthäusern und Absteigen, haben ihn Mitglieder der „Turmgesellschaft“ begleitet, ein Geheimbund, dem neben seinem Oheim auch ein Offizier und ein Geistlicher angehören. Während ihrer fürsorglichen Observation verwickeln sie, verkleidet und verstellt, den Reisenden en passant in Gespräche, lassen aber den Ahnungslosen seine Irrtümer begehen, um ihn zu guter Letzt über die Spionage aufzuklären.

Alle wissen Bescheid über ihn, fast wie informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit. Sogar die Vaterschaft, über die sich Wilhelm im Unklaren war, kann ihm der Geheimbund offenbaren. Unter der wohlwollenden Beobachtung war Wilhelm das ahnungslose Objekt reformerischer Ideale, Teilnehmer an einem rationalen, erzieherischen Experiment. Er hat gelernt, seine Leidenschaften zu kontrollieren, Untätigkeit zu überwinden, sich verantwortliche Ziele zu setzen, der revolutionären Utopie des umfassend Gebildeten zu entsprechen. Wilhelm kann nun „mit der Freiheit umgehen“, er hat „alle Tugenden eines Bürgers erworben“. Friedrich Schiller sah in Goethes Turmgesellschaft eine „Maschinerie“ – in jedem Fall folgt die Observation des jungen Menschen einem säkularen Konzept: Er soll zu sich und damit zu den anderen finden.

Der Saal, in dem die Logenbrüder Wilhelm ihr Geheimnis eröffnen, ist eine Kapelle, doch „anstatt des Altars stand ein großer Tisch auf den Stufen“. Eine neue Instanz der Vorsehung und der Vorsicht ist am Werk. „Der liebe Gott sieht alles“: Auf die alte, sinnstiftende Instanz kosmischer Ordnung scheint kein Verlass mehr zu sein, die bürgerlichen Subjekte nach der Französischen Revolution müssen schon selber hinsehen. Dass sie es hier wie die Kundschafter feudaler Mächte halten, gehört zur Ironie des Weimarer Freimaurers Goethe.

Kontrolle und Disziplin: Jeremy Benthams "Panopticon"

In derselben Epoche wurden für Institutionen wie Fabriken, Haftanstalten, Kasernen oder Schulen Modi zur Kontrolle und Disziplinierung erdacht, denen sich Michel Foucault 1975 in „Überwachen und Strafen“ widmete. Foucaults Paradebeispiel ist der Entwurf des „Panopticon“ durch den Philosophen Jeremy Bentham (1784–1832). Im Zentrum eines kreisrunden Baus erlaubt ein Turm für die Aufseher den Blick auf alle Zellen. Häftlinge müssen ständig damit rechnen, gesehen zu werden. Dieser Überwachungsturm repräsentiert das Gegenteil der Turmgesellschaft von Wilhelm Meister, er ist dessen dystopischer Zwilling. Foucault sah im Macht- und Wahrheitsregime des Panopticon eine Metapher für die Zwänge und Zweckfixierung der bürgerlichen Disziplinargesellschaft, für Zentralgewalt und staatliches Gewaltmonopol.

US-Filmsatire "Die Truman Show": Das Panorama totaler Kontrolle.

Genau 200 Jahre nach Wilhelm Meister entwarf die US-Filmsatire „Die Truman Show“ (1994) eine virtuelle Überwachungswelt. Truman Burbank, der Angestellte einer Versicherung, wird so ahnungslos wie pausenlos observiert. Als Säugling von einer Fernsehfirma adoptiert, befindet sich Truman seither ohne sein Wissen in einem Big-Brother-Szenario. Er lebt unter der Kuppel eines rundum simulierten Ambientes, in dem nichts echt ist, weder Wetter noch Gestirne, Nachbarn noch Familie. Tausende Kameras beobachten ihn 24 Stunden live für eine TV-Serie, deren Star und Opfer er ist. Dem Traumatisierten, Manipulierten kommen erst Zweifel, als Teile des Kulissen-Gefängnisses zu Bruch gehen.

Ein Jahrzehnt vor den Debatten um die „Allwissenheit“ von Suchmaschinen wie Google und die Praxis von Geheimdiensten wie NSA oder Bundesnachrichtendienst entwarf die „Truman Show“ ein Panorama totaler Kontrolle. Im Visier der Regie waren eher Werbeindustrie, Medien und Profitinteresse als die aktuellen Techniken. Die Helden sind nun nicht mehr Objekte der Kontrolle wie Wilhelm oder Truman, sondern gewandelte Täter wie der Whistleblower Edward Snowden, die als konstruktive Verräter staatlicher Logen gelten.

Wo "Security" präsent ist, lauert Gefahr

„Der Geheimdienst sieht alles.“ Diese Volte enthält Kontrolldrohung wie Schutzversprechen, doch es dominiert das Bedrohliche. Begriffe wie „Sicherheit“ oder „Aufklärung“ lösen im digitalen Kontext eher Nervosität aus. Wo immer „Security“ präsent ist, lauert Gefahr. Abhören, Kopieren, heimliches Protokollieren kommen zum Einsatz, wo kriminelle Pläne vermutet werden. Nichts anderes, so die legitimierende Formel, interessiert einen geheimen Dienst, alles Übrige ist Privatsache, jedenfalls in demokratischen Rechtsstaaten. In seinem einseitigen Interesse unterscheidet sich der Nachrichtendienst elementar von jenem Gott, der nicht allein auf die Sünder blickt, auf Diebstahl, Totschlag, Ehebruch, Lüge, sondern auch auf die Opfer der Untaten. Sie fanden Trost und Genugtuung in der Vorstellung vom Einen, der auf alle blickt, zürnend oder milde.

Aus den Mythen, die sich um die Überwachungsmethoden der Moderne ranken, beziehen moderate Paranoiker wie Wahnkranke ihren Stoff. Ein klinischer Klassiker ist „der CIA im Kopf“ des paranoid Schizophrenen, und das Echo des weit verbreiteten Antiamerikanismus hallt noch in diesem Symptom wieder. Tatsächlich lässt sich solche Paranoia meist als Mitteilung über mangelnden Schutz und schwere narzisstische Verletzung in frühen Lebensphasen entschlüsseln, als Angst wie als Wunsch, von einer mächtigen Instanz gelenkt zu werden.

In Zeiten des rapiden Wandels, die einen globalen Überblick erfordern, den kein Einzelner sich je verschaffen kann, wird die Realität selbst zur narzisstischen Kränkung. Als Reaktion darauf gedeiht die Idee von einer Mega-Instanz, die alles sieht und weiß. Sei es die Instanz eines omnipräsenten kontrollierenden Gottes, sei es ein in Milliarden Mikropartikel zerstäubtes Panoptikum, das als „Datenkrake“ alles im Griff hat. Für die Debatte über konstruierte Mega-Instanzen kommt es darauf an, Wahn von Wirklichkeit so klar wie möglich zu trennen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false