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Kultur: Konzerterlebnis in Saintes: Mozart bei den Galliern

Gallien, im Sommer 2000 nach Christi Geburt: Das ganze Land ist von Klassik-Festivals besetzt, auf denen Mozart-Opern und Brahms-Quartette rauf und runter gedudelt werden. Ganz Gallien?

Gallien, im Sommer 2000 nach Christi Geburt: Das ganze Land ist von Klassik-Festivals besetzt, auf denen Mozart-Opern und Brahms-Quartette rauf und runter gedudelt werden. Ganz Gallien? Nein, eine Kleinstadt in der Saintonge, einem vergessenen Winkel neben der Autobahn von Paris nach Bordeaux, leistet tapferen Widerstand und kämpft gegen den allgegenwärtigen Trend zum Schicken und Gefälligen. In der Abbaye aux Dames, einer prachtvollen romanischen Klosterkirche im Herzen von Saintes, regiert seit fast zwanzig Jahren Philippe Herreweghe über die Academies musicales, und wer mit ihm spricht, merkt schnell, dass er seine Überzeugung über den Sinn und Unsinn von Klassik-Festivals mit heiligem Eifer verficht.

"Wer Subventionen bekommt, muss dafür Musik bieten, die man sonst nicht zu hören bekommt", lautet das Credo, das der inzwischen international anerkannte Dirigent allsommerlich konsequent in die Tat umsetzt. Konkret heißt das gotische Vokalpolyphonie, zeitgenössische Kammermusik, Mendelssohn-Oratorien auf Darmsaiten - und die in Frankreich nach wie vor kaum bekannten Bach-Kantaten. Konzessionen an den Publikumsgeschmack wurden in Saintes noch nie gemacht, fast scheint es, als wolle sich das Festival vor Zaungästen verstecken und sich für internationale Festivalhopper so unattraktiv wie nur möglich machen: Die Außenwerbung der Academies beschränkt sich auf eine Handvoll unscheinbarer Plakate und als kleine logistisch-technische Revolution, eine frisch eingerichtete Internet-Seite, Hotelzimmer höherer Qualität sind in der 30 000-Einwohnerstadt Saintes ebenso Mangelware wie gute Restaurants. Wer sich dennoch nicht abschrecken lässt, logiert meistens privat und verzehrt allabendlich im kleinen Festival-Cafe auf wackligen Plastikstühlchen einfache Produkte aus der Region: Charentaiser Melonen mit Schinken, Marennes-Austern oder ländliche Fleischpasteten.

Vermutlich ist Saintes das sprödeste Musikfestival der Welt - und der bekennende Handy-Verweigerer Herreweghe wirkt wie ein grüner Kreisvorsitzender aus der Fundi-Fraktion, wenn er mit Fahrrad und Rucksack über den Hof der Abtei fährt. Vielleicht gerade wegen dieser Prinzipientreue ist Saintes eines der wenigen Festivals, das selber Trends für den Klassik-Markt setzt, statt sich eine bunte Starpalette zusammenzukaufen. Seit einigen Jahren bedeutet das vor allem die Erarbeitung der Musik des 19. Jahrhunderts von der Seite der historischen Aufführungspraxis her - wie seine Kollegen Norrington, Gardiner und Harnoncourt hat sich auch Herreweghe inzwischen das klassisch-romantische Repertoire angeeignet, dirigiert regelmäßig Schumann, Berlioz und Brahms.

Der Mendelssohn-Schwerpunkt diesen Jahres ist da fast schon ein Schritt zurück auf erobertes Terrain - die in ihrer Ausgewogenheit von Detailfülle und großer Form, Transparenz und Klangbalance faszinierenden Aufführungen der "Schottischen" und "Italienischen" Sinfonie und des "Paulus" zeugen nicht zuletzt von der Selbstverständlichkeit, die Herreweghe und sein Orchèstre des Champs-Elysees mittlerweile im Umgang mit diesem Repertoire gewonnen haben. Eine Erfahrung, die nicht nur via Konzerterlebnis weitergegeben wird: In Saintes trifft sich auch das weltweit wohl einzige Jugendorchester, das auf historischem Instrumentarium spielt - zu einer symbiotischen Arbeitsphase, bei der die Nachwuchsmusiker des "Jeune Orchestre Atlantique" sich Rat bei den Pariser Profis von den Champs-Elysees holen und die Ensembleleiter der Barockmusikszene (wie in diesem Jahr der Geiger Fabio Biondi) im Gegenzug ihre Dirigierfähigkeiten im "großen" Repertoire austesten können.

Resultat von Herreweghes entschiedenem Kurs wider den Musikkonsum ist freilich auch eine ungewöhnlich konzentrierte Atmosphäre bei den Konzerten - nur unbedingte Musikenthusiasten sind vermutlich in der Lage, klaglos eine Matthäus-Passion auf den rückenfolternden Flechtstühlen der Abteitribüne durchzuhalten, oder willens, sich um 23 Uhr noch Cesar Francks Klavierquintett auf Darmsaiten und mit einem historischen Erard-Flügel anzuhören.

Gerade die späten Kammermusik-Konzerte nach den orchestralen und vokalen 20-Uhr-Topacts stellten den eigentlichen Diskussionsstoff: Zeigte die etwas schwachbrüstige Wiedergabe des bei der Uraufführung 1885 als brutal expressiv empfundenen Franck-Quintetts doch gerade, weshalb gegen Ende des letzten Jahrhunderts die schwächeren Darm- durch die robusteren Stahlsaiten ersetzt wurden. Ragte ein Recital auf zwei Jahrhundertwende-Flügeln mit Werken von Debussy bis Poulenc bis weit in den Herrschaftsbereich der Steinway Grands hinein.

Der konsequente Minderheiten-Kurs der Programme hat freilich auch dazu geführt, dass das Festival auch nach fast dreißig Jahren noch wie ein Fremdkörper im verschlafenen Städtchen wirkt. Von den ungefähr 10 000 jährlich verkauften Karten wird nur ein Bruchteil in Saintes selber abgesetzt, allenfalls zu den festlicheren Eröffnungs- und Abschlusskonzerten lassen sich die Honoratioren der Subpräfektur blicken. "In Frankreich spielt Musikkultur traditionell eine weit geringere Rolle als in Deutschland", erklärt Herreweghe achselzuckend. "Die Leute kommen zu Events, aber nicht zu Konzerten."

Die säumigen Sainteser verpassen dabei nicht nur die eher fachspezifisch interessanten Erkundungsversuche, sondern immer wieder auch faszinierende Konzerterlebnisse mit Musik der Gotik und Renaissance. In diesem Jahr vor allem das spanische Ensemble Mala Punica, dessen Sängerinnen mit der bruchlosen Verschmelzung von fast aberwitziger Virtuosität und hochexpressivem Gestus ein Quantensprung auf dem Gebiet der Vokalpolyphonie gelungen ist.

Und würden die Sainteser sich irgendwann doch einmal aufraffen und sich ihr Festival erobern, würden sie vielleicht sogar feststellen, dass auch Philippe Herreweghe gar nicht so streng ist, wie er tut. Manchmal soll er sogar Mozart spielen.

Jörg Königsdorf

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