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Christian Jost, Komponist und Drigent

© Markus Werner

Konzerthaus Berlin: Traumtränen

Christian Jost hat Schumanns Liederzyklus „Dichterliebe“ mit einer Neukomposition "überschrieben". Er dirigiert auch die Uraufführung im Konzerthaus

Nach dem Ermatten der strengen Nachkriegsavantgarde wurde auch Robert Schumann wiederentdeckt. Ältere Komponisten wie Holliger und Reimann, jüngere wie Jörg Widmann beziehen sich heute ausdrücklich auf Schumanns Tonfall. Auch im Zeichen einer schweren Lebenskrise hat nun der Berliner Komponist Christian Jost die Heinrich-Heine-Lieder der berühmten „Dichterliebe“ für Tenor und ein neunköpfiges Instrumentalensemble „neu komponiert“ und die Uraufführung im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses selbst dirigiert. Zurückhaltend assoziierende Videosequenzen der Künstlerin Tabea Rothfuchs ergänzen das Konzert zur „medialen Szenografie“.

Jost hat die Liedstimme im Wesentlichen unverändert übernommen, auch werden nahezu sämtliche Elemente der Klavierbegleitung beibehalten; immer wieder emanzipieren sie sich zu motivischen Bausteinen der ausgedehnten Zwischenspiele. Das Verfahren wäre vielleicht am ehesten als „Überschreibung“ zu charakterisieren: Die Vorlage wird respektvoll aufbewahrt, aber durch zusätzliche Klangereignisse – die Repetition motivischer Zellen erinnert an Philipp Glass – ins Feld einer freien Atonalität verschoben. Gelegentlich lässt allerdings Jost Zeilen der Heine-Gedichte wiederholen und schreibt Kadenzen aus, die gegenüber den von Schumann bevorzugten offenen Schlüssen konventionell erscheinen.

Effekt macht die rhythmisch geschärfte Begleitung bei "Ich grolle nicht"

Zum zwiespältigen Ergebnis trägt bei, dass die Dissonanzen und überraschenden Modulationen der Originalkomposition in der veränderten harmonischen Struktur ohne Wirkung bleiben und die Führung der Singstimme melodisch keinen rechten Sinn mehr ergibt. Oder einen neuen, für dessen Entschlüsselung man das Stück wahrscheinlich mehrere Male hören müsste. Jost schreibt in seinem Programmhefttext, er wolle „die Räume , deren Türen Schumann aufgestoßen hat.“ Dabei wird das Innerliche der Vorlage immer wieder nach außen gekehrt: Mit großem Effekt in der rhythmisch angeschärften Begleitung zum Klassiker „Ich grolle nicht“, oder in der eindrucksvollen Passage, da die Pianissimo-Begleitfigur aus dem Lied „Ich hab’ im Traum geweinet“ mit Gewalt herausgehämmert wird.

Wer sehr an der Dichterliebe hängt und sie deshalb als nicht ergänzungsbedürftig empfindet, ist aber wahrscheinlich, da Liebe bekanntlich ungerecht ist, kein idealer Hörer des spannenden Experiments. Das Publikum im Saal des Konzerthauses jedenfalls ist begeistert und spendet Christian Jost, dem diskret gestaltenden Tenor Peter Lodahl und dem engagiert aufspielenden Horenstein-Ensemble standing ovations.

Wieder am 23. Oktober, 20 Uhr

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