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Coldplay-Sänger Chris Martin, 39.

© dpa

Konzertkritik: Coldplay in Berlin: Abstecher ins Paradies

Knallbunte Pop-Party: Coldplay verwandeln das Berliner Olympiastadion in eine fröhliche Parallelwelt.

Fang mit einem Erdbeben an und steigere dich dann langsam. Dieser praktische Tipp für Filmanfänge passt auch zum Genre Stadionrock. Coldplay zeigen, wie’s geht: Spiele als erstes den hymnischen Titelsong deines aktuellen Albums, schieße in dessen Mittelteil Feuerwerksraketen ab und lasse am Ende deinen Leadsänger einmal über den Catwalk sprinten, während neben ihm Konfettikanonen abgeschossen werden.

Wenn deine Fans dann nicht aufspringen und kollektiv „Wow“ rufen, sind es wahrscheinlich Zombies oder sonstwie Untote. Die Menge im Berliner Olympiastadion ist zum Glück ziemlich lebendig – bis in den Oberring springen alle auf.

Und weil die vor 20 Jahren in London gegründete Band ihr Geschäft perfekt beherrscht, sorgt sie mit dem direkt hinterhergeschobenen „Yellow“ dafür, dass sich so schnell niemand mehr setzen mag. Ihr allererster Hit begeistert noch immer mit seiner betörenden Mischung aus Melodie und Melancholie. Sänger Chris Martin spielt Akustikgitarre und begrüßt das Publikum anschließend auf Deutsch. Freundlich, verbindlich, lächelnd verspricht er einen großartigen Abend – und hält Wort.

Die meisten Songs stammen aus "A Head Full Of Dreams"

Coldplay erschaffen für zwei Stunden eine kunterbunte Parallelwelt, in der all die Horrormeldungen von Terror, Krieg und Flucht unendlich weit entfernt zu sein scheinen. Und die Regenbogenfarben, die das optische Konzept dominieren, sind nicht etwa als Solidaritätsadresse an Orlando gemeint, sie zieren das Artwork von Coldplays Ende letzten Jahres erschienenem Album „A Head Full Of Dreams“.
Es ist ihr bestes seit Langem, und seine positive Energie springt auch auf das Konzert über. Die meisten Lieder des Sets stammen von diesem siebten Werk, von dem Coldplay angedeutet haben, dass es womöglich ihr letztes ist. Doch von Abschiedsgedanken ist an diesem lauen Sommerabend nichts zu spüren. Chris Martin, der den Trennungschmerz von Gwyneth Paltrow offenbar überwunden hat, turnt agil und gut gelaunt über die Bühne und den langen Laufsteg davor. Wenn er sein blumengeschmücktes Klavier spielt, wippelt er wie ein aufgedrehtes Kind auf dem Hocker herum.

"Everglow" widmet Coldplay den Opfern von Istanbul

Ein erstes Highlight aus der Schmachtfetzen-Abteilung setzen Coldplay nach einer halben Stunde mit „Paradise“. Als sie zu Synthiestreichern in den „Para-para- paradise/Ohohohohoh“-Chorus abheben, ist das ein erhabener Moment, den eine leuchtende Cirruswolke über dem Stadiondach krönt. Ja, wir sind wirklich im Paradies, das wusste schon Phil Collins. Dass wir schnell wieder daraus vertrieben werden, ist leider auch klar. So kann die Politik, so kann die Realität doch nicht den ganzen Abend außerhalb der Stadionmauern bleiben.
Bei einem Intermezzo auf der kleinen vorgelagerten Bühne kommt Chris Martin scherzhaft auf die Brexit-Entscheidung zu sprechen und findet zu dem versöhnlichen Fazit „Wir sind sowieso alle Cousins“. Viel schlimmer geht es ohnehin gerade anderswo zu: Martin holt eine türkische Flagge hervor, schickt ein „Merhaba“ nach Istanbul und widmet die Klavier-Ballade „Everglow“ den Opfern des Terroranschlags vom Vortag. Gerade als er dieses schlichte, schöne Lied singt, wird ein paar Kilometer weiter östlich das Brandenburger Tor mit der Türkei-Fahne angestrahlt.

Pyrotechnik und Lichtshow helfen über schwächere Stellen hinweg

Schon mit dem Wechsel zurück auf die Hauptbühne der nicht ganz ausverkauften Arena gelingt es der Band, ihre Parallelwelt wieder hermetisch gegen das finstere Draußen abzuschließen. Alle Scheinwerfer und Laserstrahler leuchten rot. Die ersten Takte von „Clocks“ erklingen, das Will Champion mit knallenden Snaredrum-Schlägen voranprügelt. Martin hackt ins Piano, bis das Quartett U2-Flughöhe erreicht hat – souverän bombastisch. Sie wissen einfach, wie Stadionrock geht, wobei der Sound für Olympiastadion-Verhältnisse recht gut ist. Und davon hat man sogar in Babelsberg noch etwas. Als die Band in Gefilde mit etwas schwächeren Songs gerät, hilft die Pyrotechnik mit einigen Feuerfontänen aus. Endlich ist es dunkel geworden, und da wirkt sowas gleich viel besser. Ebenfalls sehr effektvoll sind die ferngesteuerten Leuchtarmbänder, die vorab verteilt worden sind. Sie flackern mal in verschiedenen Farben, mal alle in rot oder blau. Wenn die Menge klatscht, sieht das aus, als schwirre ein riesiger Glühwürmchen-Schwarm durchs Stadion.

Mit Pauken und Streichern wummert "Viva La Vida"

Ein bisschen Kitsch ist natürlich auch dabei, etwa als Chris Martin „Fix You“ im gelb-roten Licht auf dem Boden liegend intoniert und zum Song-Finale am Rand der Vorderbühne auf die Knie fällt. Egal: Die Fans singen beseelt mit. Weniger überzeugend gerät die Coverversion von „Heroes“, Coldplays Hommage an den im Januar verstorbenen David Bowie. Zwar zerrt Jonny Buckland wunderbar den langen Heulerton aus seiner E-Gitarre, doch Martins Gesang fehlt die nötige Spannung, um das Stück zum Strahlen zu bringen. Es wirkt mehr wie eine Pflichtübung, bevor man endlich mit zwei eigenen Krachern in die Zielgerade einbiegen kann. Vehement wischen Coldplay den Wackler zur Seite: Mit dem Streicher-Riff von „Viva La Vida“, dessen mächtigen Paukenschlägen und dem „Ohho“-Jubelchor für mehrere zehntausend Kehlen. Direkt gefolgt von „Adventure Of A Lifetime“, dem besten Stück ihres aktuellen Albums. Es hat einen für die Band untypischen Discofunk-Groove und dieses irre eingängige schnelle Glitzer-Lick von Gitarrist Jonny Buckland. Stillstehen ausgeschlossen. „Everything you want’s a dream away/ And we are legends every day“, jubiliert Martin, während dicke bunte Ballons von der Bühne hüpfen. Prima Kindergeburtstagsamosphäre. Die Zugaben sind dann mehr ein Austrudeln mit Akustikgitarren-Intimität und einem leicht vergurkten musikalischen Gruß an Rammstein-Sänger Till Lindemann. Beim Feuerzauber-Finale passt dann wieder alles. Mit einem Lächeln schwärmen die Glühwürmchen hinaus. Sie müssen zwar ihre Leuchtbänder abgeben, aber innerlich glimmen sie noch ein bisschen weiter.

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