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Konzertkritik:: Sufjan Stevens: Glücksspender

Er ist der vielleicht größte aller lebenden Songwriter, Songs wie "Chicago" und "Impossible Soul" und Alben wie "The Age of Adz" zeugen davon. Auch das Berliner Publikum war am Ende außer Rand und Band. Himmlisch: Sufjan Stevens im Admiralspalast.

Von Jörg Wunder

Manchmal ist Glück erstaunlich günstig zu haben. 25 bis 35 Euro kosteten die Karten für das Konzert von Sufjan Stevens im Admiralspalast. Das ist geschenkt für zweieinhalb Stunden emotionale Überwältigung - zumindest für diejenigen, die schnell genug reagiert haben, denn das Konzert des Amerikaners war in kurzer Zeit ausverkauft. Das Glück fängt an wie eine Szene aus "Avatar": Hinter einem transparenten Vorhang formieren sich elf Musiker mit fluoreszierend bemalten Kostümen und lassen es zirpen und seufzen und knurpseln wie in einem nächtlichen Alien-Urwald. Lichtpunkte rieseln herab, der Vorhang hebt sich, Sufjan Stevens entfaltet riesige Engelsflügel und, Bäng!, wird man von einer sinfonischen Klangwalze in die Sitze gepresst. Der Begriff "Wall of Sound" wird ja in der Popmusik schnell verwendet für alles, was über den üblichen Gitarren-Bass-Schlagzeug-Standard hinausgeht. Aber Stevens hat ihn wirklich: zwei präzise verzahnte Drummer, zwei verwegene Keyboarder, ein Bassist, der bei Bedarf auch zur Blockflöte greift, ein vogelwilder Gitarrist, zwei Sängerinnen, zwei mächtige Posaunen - dazu Sufjan selbst an Banjo, Gitarre, Klavier und allem möglichen. Das ergibt bei Bedarf einen Klangkörper von wagnerianischer Wucht.

Es war in den letzten Jahren nicht immer leicht, Fan des flamboyanten Songwriters aus Detroit zu sein. Seiner vollmundigen Ankündigung, zu jedem der 50 US-Bundesstaaten eine Platte zu veröffentlichen, ließ er zunächst Taten folgen. Zwei fantastische Themenalben zu seinem Heimatstaat Michigan und zu Illinois bezeugten mit größenwahnsinniger Pop-Sinfonik ein frühreifes Genie, wie man es seit Brian Wilson nicht mehr gehört hatte. Stevens schien aber auch das tragische Scheitern des Ex-Beach Boys nachzuleben, denn außer einer Sammlung von Weihnachtsliedern und einer anstrengenden Kunstmusik über eine New Yorker Schnellstraße herrschte die nächsten fünf Jahre Funkstille. 2010 kamen dann endlich zwei neue Werke. Beide beeindruckend, aber auch von einer inneren Zerrissenheit, die sich in einem permanenten Wechsel der musikalischen Form ausdrückte. Die Songs, die er weitgehend im Alleingang zusammengefrickelt hatte, mussten für die Konzerte komplett neu arrangiert werden. Die Mühe hat sich gelohnt. Schüchterne Synthie-Bastelarbeiten erblühen zu irrwitzigen Disconummern, spröde Artrock-Kopfgeburten werden zu mitreißenden Rocksinfonien.

Sufjan Stevens, der mit 35 immer noch genauso jugendlich aussieht wie bei seinem letzten Berlinkonzert vor fünfeinhalb Jahren, schreckt stilistisch vor nichts zurück. Pastoraler Hirtenfolk mit Blockflötensolo hat genauso Platz wie queerer Darkroom-Funk mit Autotune-Gesang oder bombastische Glamrock-Explosionen. Und es fügt sich ja auch alles auf wundersame Weise zu einem großen Ganzen zusammen, das immer mehr ist als die Summe der einzelnen Teile. Zu vielen Stücken wird ein spektakuläres Feuerwerk psychedelischer Lichtprojektionen abgefackelt, die Show wird zum betörenden Gesamtkunstwerk. Zwischendurch erzählt Stevens, halb im Scherz, von den psychologischen Befindlichkeiten beim Verfassen seiner Stücke oder hält einen einfühlsamen Stegreif-Vortrag über den verstorbenen schizophrenen Künstler und selbsternannten Propheten Royal Robertson aus Louisiana, dessen apokalyptische Bilder das Artwork seines letzten Albums bildeten.

Wem das alles noch nicht genug ist, der wird durch "Impossible Soul" ruhig gestellt. 25 Minuten wabert dieses Monstrum von einem Song zwischen himmlischen Chören, nervenzerrendem Orchesterlärm und pulsierenden Dancefloorbeats. "Hair" trifft Frank Zappa trifft Giorgio Moroder. Zum rauschenden Finale mit Konfettikanonenbeschuss stülpt sich Sufjan Stevens ein riesiges Spiegelprisma mit eingebauter Discokugel über den Kopf - der Mann, der vom Himmel fiel. Alles ist Rausch und Ekstase, das Publikum nach zwei Stunden Endorphinausschüttung völlig außer Rand und Band.

Nichts geht mehr? Von wegen. Als Zugabe spielt Sankt Sufjan ganz allein zwei stille Balladen, darunter "John Wayne Gacy, Jr.", das traurigste und zarteste Lied, das jemals über einen Massenmörder geschrieben wurde. Dann kommt nochmal die ganze Band zurück, eine Kaskade Luftballons geht auf das entfesselte Auditorium nieder und alle, alle tanzen und singen gemeinsam "Chicago", den schönsten Song dieses vielleicht größten aller lebenden Songwriter. "All Things go" skandiert der Chor immer wieder in einer für die Ewigkeit geschriebenen Melodielinie. Wer würde nach diesem Abend noch Widerworte wagen?

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