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Kultur: Kreuzung für Kunst und Sehnerven

Die europäische Integration setzt kulturell zwei gegenläufige Bestrebungen in Gang, den Wunsch nach Integration und den nach Abgrenzung.Das gilt zumindest für diejenigen Länder und Regionen, die bisher eine vergleichsweise selbstverständliche Identität haben leben können, sich nun aber zu einer Neudefinition ihrer Rolle im größeren Maßstab gedrängt sehen.

Die europäische Integration setzt kulturell zwei gegenläufige Bestrebungen in Gang, den Wunsch nach Integration und den nach Abgrenzung.Das gilt zumindest für diejenigen Länder und Regionen, die bisher eine vergleichsweise selbstverständliche Identität haben leben können, sich nun aber zu einer Neudefinition ihrer Rolle im größeren Maßstab gedrängt sehen.Finnland ist ein solches Beispiel.Die alte Rolle des neutralen Mittlers zwischen Ost und West ist passé.Aus der besonderen Lage der Hauptstadt läßt sich kein Anreiz für internationale "Gipfeltreffen" mehr gewinnen.Mit einem Mal heißt Helsinkis Schicksal wieder, wie früher schon am Rande des europäischen Ballungsraumes und seiner Handelsströme zu liegen.

Die Vorteile der Randlage hat Finnland ein halbes Jahrhundert lang genossen; nun sucht es den drohenden Nachteilen energisch zu begegnen.Ein Stein im Mosaik war die Bewerbung um den Titel der "Kulturhauptstadt Europas" für das magische Jahr 2000.Die Kulturminister der EU, die diesen finanziell nicht dotierten, aber prestige- oder zumindest doch tourismusträchtigen Ehrennamen vergeben, zeigten sich allerdings von der kompromißfreudigsten und damit für alle enttäuschendsten Seite, als sie gleich neun der zahlreichen Bewerberstädte zur "Kulturstadt Europas" bestimmten.Jetzt also heißt es die geteilte Aufmerksamkeit des europäischen Publikums neuerlich umwerben.Einen ersten Paukenschlag setzte es bereits am vergangenen Wochenende, als Helsinki die Eröffnung seiner neuen Kunsthalle feiern konnte.

Sie hört auf den befremdlichen Namen "Kiasma".Chiasma heißt medizinisch die Kreuzung der Sehnerven, und mit diesem Fachwort versah der Amerikaner Steven Holl seinen Beitrag zum Wettbewerb für den Neubau eines Museums für zeitgenössische Kunst im Jahre 1993.Groß war die Überraschung, als ausgerechnet einer der geladenen Gastarchitekten sich gegen immerhin 515 Einreicher aus dem Ostsee-Skandinavien-Raum durchsetzen konnte, und die folgenden Debatten um den kühnen und so gar nicht der finnischen Bautradition entsprechenden Entwurf blieben nicht frei von entsprechenden Mißtönen.Am Wochenende jedoch zeigte sich Helsinki rundum zufrieden mit dem 12 000 Quadratmeter Bruttogeschoß- und 9 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche bietenden Gebäude, das am Ende 227 Millionen Finnmark (rund 75 Millionen DM) gekostet hat.

Kiasma also ist ein Museum für ganz und gar zeitgenössische Kunst, und die Direktorin Tuula Arkio und ihr Team geben sich nicht die geringste Mühe, eine lange historische Herleitung der von ihnen ausgewählten Kunst vorzunehmen.Wer das Museum betritt, ist im Hier und Jetzt der Kunstdebatten.Das entspricht dem Gebäude, das sich um die von der finnischen Nationalromantik der Jahrhundertwende bis zum "Nationalbaumeister" Alvar Aalto gezogene Traditionslinie - in nächster Nähe durch entsprechend gewichtige Bauten ausgewiesen - nicht schert.Im besonderen schert sich Holls eigentümlich provisorisch anmutender Bau nicht um die Nachbarschaft zum mächtigen Parlamentsgebäude von 1922/31 auf der anderen Seite der breiten Mannerheim-Straße, und auch nicht um deren Namensgeber, den Marschall, Staatspräsidenten und pater patriae Mannerheim.Der nämlich sitzt hoch zu Roß auf seinem Denkmal und markiert den bislang leeren Platz zwischen Hauptpost und Güterschuppen, die sich bis an die Mannerheimstraße heranschieben.Erst weiter nördlich setzt sich der Reigen wichtiger Bauten fort, mit der "Finlandia"-Halle Aaltos, der 1993 eingeweihten Nationaloper und dem bereits zu den geplanten Spielen von 1940 errichteten, aber erst 1952 genutzten Olympiastadion, in dem sich am Vorabend der Kiasma-Erstbesichtigung die deutsche Fußballnationalmannschaft beinahe eine Blamage einfing.

Kiasma hinterfängt nun den reitenden Marschall.50 000 Finnen protestierten gegen das ursprüngliche Vorhaben des unbekümmerten Steven Holl, der eine Verschiebung des Denkmals im Sinn hatte.Der Reiter blieb.Mittlerweile zeigt sich, daß die Koexistenz nicht nur eine friedliche, sondern eine sogar glückliche ist, denn das Denkmal bekommt die bisher fehlende räumliche Fassung und die karge Kunsthallenfassade einen optischen Akzent.Beim Eintritt in die mit Beton, Glas und metallener Dachverkleidung, aber mitnichten mit skandinavien-stereotypem Holz aufwartende Kiasma zeigt sich, wie delikat der 50jährige Holl auf die besondere Lage seines Gebäudes eingeht.Das spitzwinklige Grundstück forderte zwar einen Solitärbau, doch engt ihn die Nachbarschaft mächtiger Bauten zugleich ein.Vor allem aber ist das nordische Licht so eigenwillig: nur wenig vorhanden im langen Winter, dafür um so ausgiebiger im Sommer; dann aber von einer durchdringenden Intensität, die auch nur den Gedanken etwa an einen traditionellen Oberlichtbau verscheucht.Holl hat sich mit dem Lauf der Sonne vertraut gemacht - und spiegelt ihn gradgenau in der Lage seines Gebäudes.Vielmehr: seiner beiden Bauteile.Es sind nämlich zwei, spitzwinklig zueinander stehende Bauteile, die sich im hinteren Drittel kreuzen und durchdringen und den Architekten zum Wort Chiasma geführt haben, den der fertige Bau nun im wörtlichen wie im übertragenen Sinne trägt.Den "Spalt" zwischen den Bauteilen, der sich, exakt dem Lauf der Sonne folgend, verjüngt, hat Holl zu einem der schönsten Foyers jüngerer Museumsbauten gestaltet.Eine sanfte Rampe schiebt sich an der gebogenen, rechten Betonwand in die Höhe des ersten Obergeschosses.Bis zuletzt fängt dieses Foyer die Strahlen der abends beinahe waagerecht leuchtenden Sonne und lenkt sie ins Gebäude.Völlig ungezwungen erwandert sich der Besucher die in der Höhe versetzten Geschosse, die sich zu vier Ausstellungstrakten über dem einheitlichen und mit allen Serviceeinrichtungen und einem rückwärtigen Theatersaal versehenen Erdgeschoß ordnen.Die Räume sind, des zur Gebäuderückseite hin buckelförmig gebogenen Daches wegen, durchweg verschiedenartig; im obersten Geschoß - mit seitlichem Oberlicht - erinnern sie bisweilen an die Raumschöpfungen Frank Gehrys in Bilbao.

Dabei sind die Grundrisse der Galerien durchweg rechtwinklig; und Hängefläche stünde an den Wänden ausreichend zur verfügung, wenn sie denn überhaupt in dieser Ausschließlichkeit benötigt würde.Doch die aktuelle Kunst hat ohenhin von Wand und Sockel Abschied genommen.In den beiden mittleren Geschossen breiten die Kuratoren - die ursprünglich im nationalen Kunstmuseum "Ateneum" beheimatet waren, jetzt aber mit einer um 50 auf 71 Arbeitsplätze erweiterten Mannschaft den Neubau bespielen - Teile der eigenen Sammlung aus, in den beiden oberen Geschossen ihre Auswahl der finnischen Gegenwartskunst.Der selbstbewußte Verzicht auf den soundsovielten Aufguß des internationalen mainstreams beeindruckt; weniger indessen die Auswahl der Werke, aber das kann bei Gegenwartskunst kaum anders sein, werden doch bestreitbare Positionen vorgeführt und keine etablierten blue chips.Es gibt, dem Trend der Jetztzeit folgend, überwiegend mediale Arbeiten zu sehen und dazu Installationen, unter denen die scheinbar naiv gemalte, 16teilige Portraitserie "Lebt und arbeitet in Finnland" der 34jährigen Sirpa Alalääkkolä und die Folge von vier außerordentlich dichten Fotopanoramen - eines davon in Berlin-Mitte entstanden - des 39jährigen Esko Männikkö herausragen."Diese Seite des Meeres" ist die Auswahl überschrieben.Der Titel spiegelt ein Selbstbewußtsein, das immer auch etwas vom Pfeifen im dunklen Walde hat.Die ungeheuer lebendige Gegenwart der finnischen Nationalgeschichte und ihrer prägenden Mythen und Bilder erweist sich eben auch als selbstgesetzte Hürde im internationalen Dialog, dem sich zu stellen das von allen erkannte Gebot der Stunde ist.

Womit wiederum "Helsinki 2000" ins Spiel kommt.Es gibt allerdings nicht viel Neues zu berichten.Gegenüber einer ersten Übersicht vor einem halben Jahr hat sich programmatisch nichts getan.Das Kulturstadt-Team ist weiter auf der Suche nach dem unverwechselbaren Profil.Zu sehen sind lediglich die Baustellen überall in Helsinki: Die Stadt soll an Lebensqualität gewinnen, und so sind zahlreiche Renovierungsprojekte in Angriff genommen worden, die dieser ohnehin so schönen und gerade in der grünen Jahreszeit so unvergleichlich intensiv in die Natur eingebettenen Stadt noch ein wenig mehr Glanz verleihen werden.Aber das ist weder unverwechselbar noch "Kulturstadt"-spezifisch.Einzigartig jedoch ist die Kunsthalle, mit der Helsinki ein entschiedenes Bekenntnis zum internationalen Dialog und zur zeitgenössischen Formulierung seiner kulturellen Identität abgelegt hat.Kiasma wird bleiben und ausstrahlen, was immer das Programm "Helsinki 2000" sonst noch bieten mag.

Kiasma, Mannerheiminaukio 2.Di 9 - 17 Uhr, Mi bis So 9 - 22 Uhr.Eintritt 25 FIM.Katalog (dreisprachig) 215 FIM, Buch über das Gebäude (in englisch) 240 FIM.

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