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Kultur: Krieg im Kinderzimmer

Premiere der Lindenoper in Montpellier: René Jacobs und Nigel Lowery triumphieren mit Händels „Rinaldo“

Von Jörg Königsdorf

Die sind doch alle verrückt. Diese fanatischen Moslems, Kirchenbesetzer, Selbstmordattentäter ebenso wie die anderen, seien es nun Christen oder Juden, mit denen sie sich andauernd bis aufs Messer bekriegen. Das kann man schon in der Tagesschau kaum mehr hören und soll es nun auch noch geschlagene vier Stunden auf der Opernbühne vorgesetzt bekommen? Doch halt, es geht ja in diesem Fall, wie es sich für die Kunst gehört, ums Grundsätzliche. Und zwar, dankenswerterweise weder um wohlfeile Bin-Laden-Maskeraden noch um den sacharinsüßen Versöhnungssirup, der seit dem 11. September über alle Orient-Klassiker von Mozarts „Entführung“ bis zu Lessings „Nathan“ ausgegossen wird. Sondern eher schon um die ernüchternde Erkenntnis, das solche wohlmeinenden Botschaften mit der Alltagsrealität herzlich wenig zu tun haben.

Denn dass die Welt so einfach nicht ist, wusste schon Händel, als er 1711 seinen „Rinaldo“ schrieb. Und das wissen natürlich auch Amir Hosseinpour und Nigel Lowery, die dieser grellen, kunterbunten Kreuzzugs-, Liebes- und Zauberoper nach Tassos „Befreitem Jerusalem“ jetzt zu Leibe gerückt sind. Was das iranisch-britische Regiedoppel von dem ganzen religionskriegerischen Wahn hält, zeigt es schon gleich zur Ouvertüre. Während im Orchestergraben des Opernhauses von Montpellier René Jacobs und das fabelhafte Freiburger Barockorchester mit virtuos auftrumpfenden italianisierendem Concerto-Grosso-Glanz die Zeichen auf barocke Festlichkeit setzen, ist ein paar Meter weiter oben schon der Krieg im Kinderzimmer ausgebrochen: Eine gigantische Big-Jim-Figur mit Maschinengewehr prangt auf der Bühnenwand, in deren Mitte sich ein kleines Kaspertheater-Fenster geöffnet hat: Eine Moslempuppe verhaut eine Kreuzritterpuppe, dann verhauen zwei Ritterpuppen eine Moslempuppe, und so fort, bis die Puppenspieler selbst anfangen, sich zu balgen. Kindisch, alltäglich und offenbar unausweichlich.

Kein Wunder, dass kurz darauf die eigentlichen Opernprotagonisten auch nichts anderes im Sinn haben, als sich um eine Pappmaché-Kirche zu streiten, die mitten auf der Bühne steht wie ein monströses Spielzeug – ist der eine gerade drin, will der andere ihn um jeden Preis hinauswerfen. Nach einem Sinn fragt da ohnehin keiner. Das hochstimmig und händelgerecht koloraturenreich sein Gottvertrauen besingende Kreuzrittertrio Rinaldo (Mezzo-Star Vivica Genaux), Eustazio und Goffredo (die Countertenöre Christophe Dumaux und Lawrence Zazzo) ebenso wenig wie ihr bassmächtiger Gegenspieler James Rutherford als Heidenfürst Argante. Das wäre eigentlich eher albern, ist aber angesichts der Einfallsfülle Hosseinpours und Lowerys (der auch für Bühne und Kostüme verantwortlich ist) vor allem blendende, witzige Unterhaltung nach bester Monty-Python-Manier. Doch bleibt es bei Lowery, anders als bei vielen seiner britischen Regiekollegen, zum Glück nicht beim Händel-Klamauk – wie schon in seiner heftig umstrittenen, grandios bluttriefenden Schauerversion von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ zeigt er eine intuitive, kindliche Grausamkeit, die quasi reflexartig das Handeln aller Beteiligten zu bestimmen scheint. Und die in ihrer archaischen Direktheit umso unheimlicher wirkt – als sei die Schicht der Zivilisation doch nur hauchdünn darüber gebreitet.

Mit der Typologie der Barockoper und ihren rasanten, glücksgesteuerten Stimmungsumschwüngen, den schmetternden Schlacht-Arien, der plötzlichen bodenlosen Trauertiefe der Lamenti und ebenso unvermittelt aufjauchzenden Jubelfontänen, veträgt sich dieser Rückgriff bestens. Und auch mit der Musik des 26-jährigen Händel, die im „Rinaldo“ noch birst vor Farbenpracht, rhythmisch-tänzerischen Vitalität und hemmungslos zur Schau gestellter Gesangsvirtuosität – und die Jacobs mit den Freiburgern so sinnlich, vital und dramatisch musiziert, wie sie selten zu hören ist.

Dabei trifft auch Jacobs einen Grundton, der zwischen diesem lustvollen Auskolorieren der Opernglitzerwelt und einer pointierten Ironie balanciert. Denn im „Rinaldo“ ist viel Show und kaum Drama: Wenig hat dieses frühe Werk von der psychologischen Ausfeilung späterer Stücke wie „Alcina“ oder „Tamerlano“; selbst die eigentlich diesen Stoff bestimmende Liebesgeschichte von Rinaldo und der heidnischen Zauberin Armida (die Lettin Inga Kalna gibt ihr mit sattem, tiefen Sopran mächtig Sex-Appeal und Dämonie) tritt hinter dem Spektakel zurück. Die ist weit eher eine schrille schwarze Fantasy-Hexe mit einem ganzen Kasten voller Special effects als eine leidend-liebende Opernfrau, entführt stracks Rinaldos Girlie-Freundin Almirena (Miah Persson mit zuckersüßem Sopran) und schickt die Kreuzritter auf einen Horrortrip. Aus ihrer Kinderzimmerszenerie purzeln Rinaldo, Eustazio und Goffredo in die Trashwelt der Filmstudios.

Dass die Geschichte dabei zusehends ins Absurde abdriftet, hat freilich Methode. Bei Händel, der die finale Konversion Armidas und Argantes zum christlichen Glauben damit endgültig als „Wir versprechen, jetzt brav zu sein“-Komik entlarvt, ebenso wie bei Lowery/Hosseinpour. Wenn die Kreuzritter auf Erlösungssuche in Tibet landen oder ein Suspense-Moment kurzerhand durch einen Selbstmordattentäter aufgelöst wird, verschmelzen Realität und Fiktion ebenso wie in der kindlichen Fantasie, wird der Glaubenskrieg zur Farce, an deren Ende sich alle artig an den Händen fassen – bis zum nächsten Mal.

Eine scharfsinnige, scharfkantige und naturgemäß heftig umstrittene Produktion, deren Ensemble wieder einmal beweist, dass es in Sachen Barockoper offenbar möglich ist, sowohl typgerechte wie darstellerisch und sängerisch uneingeschränkt überzeugende Sänger zu finden – wenn der Dirigent René Jacobs heißt. Die Berliner Staatsoper, die diese Produktion im kommenden Jahr herausbringen wird, kann sich freuen und schon den ersten Erfolg verbuchen – bevor die Saison begonnen hat.

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