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Kritik: An diesem Eifer muss die Welt genesen

Karl-Heinz Ott erzählt in „Wintzenried“ von der Verblendung des Menschheitserziehers Jean-Jacques Rousseau und den Nachtseiten der Aufklärung

Am Anfang aller Philosophie, so ist es von Aristoteles überliefert, steht das Staunen. Im neuen Roman von Karl-Heinz Ott werden wir eines Besseren belehrt: Am Anfang der Philosophie steht die Raserei eines eifersüchtigen Jünglings, der in onanistischer Selbsterhitzung ein Programm der Weltbeglückung ausbrütet. Es geht um die Geburt der Philosophie aus dem Furor der Eifersucht, um die Selbstüberhebung eines narzisstischen Träumers zum Welterlöser. Karl-Heinz Ott zeichnet das Porträt des Menschheitserziehers Jean-Jacques Rousseau, dem das stete Schwanken zwischen philosophischem Sendungsbewusstsein und Größenwahn zum Verhängnis wird. Rousseau ist das markanteste Beispiel für einen rastlosen Geist und manisch produzierenden Schriftsteller, der seine Fantasie in bizarren Welterlösungsmodellen ausagiert.

Karl-Heinz Ott wählt hier eine völlig andere Erzählweise als etwa in seinem geistesverwandten Roman „Endlich Stille“ (2005), in dem ein Basler Philosophieprofessor vor dem ausufernden Geschwätz eines ungebetenen Gesprächspartners die Flucht ergreift. Brillierte Ott dort mit weit ausgreifenden Satzperioden, um die irre Rabulistik des unheimlichen Protagonisten abzubilden, so zieht er sich in „Wintzenried“ weitgehend auf die Innenperspektive seines tragischen Helden zurück und skizziert in knappen Sätzen dessen Kreuzzug gegen die verderbte Zivilisation. Rousseau, der Stichwortgeber der Französischen Revolution und Vordenker einer emanzipatorischen Pädagogik, schrumpft hier zum triebgesteuerten Eiferer, der seine fünf Kinder ins Waisenhaus steckt und mit sektiererischen Ansichten sein Denken ruiniert.

Gleich in den ersten beiden Kapiteln wird das Trauma des ebenso einsamen wie ehrgeizigen Jünglings Jean-Jacques benannt. Von seinem Vater alleingelassen, gelangt der 16–Jährige in die Obhut einer Madame de Warens, die ihn zur Konversion zum Katholizismus animiert und später als Wahl-Mama zur erotischen Lehrmeisterin wird. Jean-Jacques träumt unablässig von einer erotischen Symbiose mit der Mutter-Geliebten; gleichzeitig besteht sein sexueller Alltag primär aus „einsamen Verrichtungen“: Das Onanieren schützt ihn vor allzu großer Nähe. Das Trauma, das aus dem sehnsüchtigen Muttersohn schließlich eine manische Formulierungsmaschine werden lässt, trägt den Namen Wintzenried. Nach einer seiner Bildungsreisen findet Jean-Jacques im Bett seiner „Mama“ den Perückenmacher Wintzenried vor – und hier beginnt seine Selbsterfindung als Universalphilosoph, der zunächst nur den Rivalen und kurz darauf die ganze Welt „erziehen“ will.

In diesen ersten drei Kapiteln finden sich die aufregendsten Partien des Romans. In einer ebenso verstörenden wie komischen Szene schildert Ott den ersten Auftritt Rousseaus als Komponist und Dirigent, der wegen mangelnder Vorkenntnisse in einem Fiasko endet. Die Konfrontation der Größenfantasie mit der Wirklichkeit mündet aber nicht in Selbstbescheidung, sondern ein gesteigertes Sendungsbewusstsein.

Über Nacht weltberühmt wird der später in seiner Heimatstadt Genf und in Frankreich verfolgte Aufklärer durch seinen „Discours sur les Sciences et les Arts“ (1749), eine Attacke auf die Wissenschaften und Künste seiner Zeit, die er als Zeugnis zivilisatorischer Verderbtheit interpretiert. Otts boshafte Pointe liegt darin, dass er die Idee zu diesem anti-aufklärerischen Pamphlet dem Enzyklopädisten Denis Diderot zuschreibt, der dem vor Ehrgeiz brennenden Kollegen rät, er könne nur durch einen Essay gegen den kulturellen Mainstream den erwünschten Distinktionsgewinn erzielen.

Überhaupt hat Ott wenig Erbarmen mit dem Eiferer Rousseau, der immerhin als einer der ersten Philosophen die zerstörerischen Aspekte der Aufklärung erkannte. Aber es geht nicht etwa um Entzauberung. Rousseaus Lebensgeschichte steht hier exemplarisch für die Selbsttäuschung, die das unablässige Schreiben, Imaginieren und Fantasieren eines Geistesmenschen mit sich bringen kann.

Die Lust am Text bewegt sich bei expressiv-poetischen Temperamenten immer weiter weg von der Wirklichkeit – zurück blieb im Fall Rousseaus ein Kopf ohne Welt. In seinen Maßlosigkeiten ließ sich Rousseau auch durch die empiristisch geerdete Skepsis seines Förderers David Hume nicht korrigieren und verfiel einem Verfolgungswahn. Den Aufstieg und Verfall eines Geisteshelden erzählt der exzellente biografische Roman Karl-Heinz Otts als Tragikomödie und Lektion über die Nachtseiten der Aufklärung.

Karl-Heinz Ott: Wintzenried. Roman. Hoffmann & Campe, Hamburg 2011.

240 Seiten, 18,99 €.

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