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Kultur: Krumme Seele im geraden Leib

Der Philosoph Kurt Bayertz erzählt die Ideengeschichte des aufrechten Gangs.

Der Prototyp des Menschen ist weder der kriechende Säugling noch der am Stock gehende Greis, sondern das aufrecht stehende und gehende Individuum. Und doch wundert sich der Münsteraner Philosoph Kurt Bayertz, wie wenige Deutungen diese Tatsache provoziert hat. Wie aufschlussreich könnte sie für die Geschichte des anthropologischen Denkens sein. Mit dem Interesse an der Sache ist das an seinem Buch geweckt.

Bayertz’ Begeisterung überträgt sich, und so kommt es, dass man seine wissenschaftliche Studie gefesselt liest. Vielleicht spielt auch sein Humor eine Rolle, der zwischen den Zeilen oft spürbar ist. Wenn das Philosophische auch dominiert, so bezieht Bayertz doch auch theologische und literarische, mythologische und naturwissenschaftliche Quellen mit ein.

An Platons Dialog „Timaios“ arbeitet Bayertz heraus, wie es dem Demiurgen bei der Erschaffung des Menschen darum geht, mit dem Körper einen Behälter für die verschiedenen Teile der Seele zu haben. Nach der einfachen Regel „Je edler, desto höher“ platziert er den Kopf oben, weil der rationale Seelenteil darin untergebracht wird, der über die niederen, triebhaft-animalischen Teile gebieten soll. Kommt hinzu, dass der Kopf auf den himmlischen Ursprung der hierarchischen Seele verweist. Dann steht er da, der Mensch als „aufrechter Himmelsbetrachter“ und Abbild des wohlgeordneten Kosmos.

Der Bezug zur Moral ist schon im Bedeutungsfeld des Wortes „aufrecht“ zu finden. Nur ein Schritt, und man gelangt vom handfest Körperlichen zum Qualitativen, zu dem, was recht, richtig und aufrichtig sein soll. „Merkwürdigerweise wird die aufrechte Haltung allerdings gegensätzlich bewertet.“ Mit solchen Hinweisen bewegt Bayertz den Leser immer wieder zum Mit- und Nachdenken. Zwar gilt die aufrechte Haltung nicht nur im Christentum als Zeichen der Ehrerbietung einerseits und Indiz von Hochmut andererseits. Aber hier vor allem leuchtet die Lösung des Widerspruchs ein. Am besten, man übernimmt die Erniedrigung selbst: „Wer nicht gebeugt werden will, muss sich selbst beugen.“ Das Schicksal der Frauen von Jerusalem ist exemplarisch: Weil sie so eitel daherstolzieren und die Hälse recken, berichtet der Prophet Jesaja, darum wird der Herr „ihre Scheitel mit Schorf bedecken und ihre Schläfen kahl werden lassen“.

Gott straft den Menschen, um ihn manchmal wieder aufzurichten. Er hat ihn geschaffen als „Krone der Schöpfung“. Aber auch als Sünder, mit der vollen Verantwortung für das Übel der Welt, in der das Gute dank göttlicher Gnade möglich wird. Warum die Moral eine Angelegenheit der Menschen ist, hat Bayertz bereits 2004 zum Thema eines Buches gemacht. Jetzt geht es ihm um den Mythos vom Sündenfall, um die damit verbundenen Paradoxien und den tiefen Schnitt, den er in der Geschichte der Menschheit markiert. Der Mensch ist unter Verdacht geraten, „im aufrechten Leib eine krumme Seele zu haben“, wie Bernhard von Clairvaux sagt.

Warum aber ist unser Körper eigentlich aufgerichtet, wenn es keinen göttlichen Plan, keine Sonderrolle des Menschen unter den Tieren und nur den Zufall ungeklärter Notwendigkeiten gibt? Gehen wir aufrecht, weil die Hände dann frei sind, um Kinder zu tragen, nach Nahrung zu greifen und Waffen zu handhaben? Oder war es umgekehrt? Die Evolutionstheorie, so Bayertz, hat dieses Rätsel nicht gelöst. Für Darwin war der „freie Gebrauch der Hände und Arme“ sowohl Ursache wie Resultat der Aufrichtung.

Mit Genugtuung liest man, dass Hegel und Fichte der Sache eine „freiheitstheoretische Wendung“ geben: Wir haben uns für den aufrechten Gang und gegen das Krabbeln und Kriechen entschieden. Schon Kinder entwickeln den Ehrgeiz, es den Erwachsenen gleichzutun. Insofern ist die aufrechte Gangart auch Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung – und einer andauernden Gefahr. Denn sicherer wären wir auf allen vieren. Durch das „kühne Wagnis“, auf zwei Beinen zu gehen, setzen wir uns dem permanenten Risiko des Hinfallens aus.

Je mehr man erfährt, wie labil die vertikale Position angesichts der kleinen Standfläche ist, desto mehr sollte man aufpassen, dass dieses Wissen der instinktiven Sicherheit nichts anhaben kann, die uns im Allgemeinen vor dem Hinfallen bewahrt. Jeder Sturz ist schrecklich, schon das Gefühl der Ohnmacht beim Stolpern und Straucheln ist schlimm. Am besten, man tut so, als ob nichts gewesen sei, und kehrt blitzschnell zurück auf die Beine. Für ältere Menschen ist das allerdings nicht mehr selbstverständlich. Der Sturz gilt unter ihnen als häufigste Todesursache.

Bayertz lässt keine Gelegenheit aus zu unterstreichen, dass damit auch eine bestimmte Würde verbunden ist. Sie zeigt sich am besten im Vergleich etwa mit humanoiden Robotern. Bei der Konstruktion wird enorm getüftelt, um durch zusätzliche Sensoren das Hinschlagen bei geringsten Unebenheiten des Bodens zu verhindern. Aber selbst wenn sie ruckelnd vorwärtskommen, bringt ihr Gang doch nichts zum Ausdruck. Beim Menschen dagegen kommt durch die Art des Gehens und Stehens etwas von ihrem Wesen zum Vorschein, vom Denken und Fühlen und Befinden – altmodisch gesprochen vielleicht sogar vom Charakter einer Person. Liegen bleiben müssen wir alle noch früh genug.

Kurt Bayertz:

Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. Verlag C. H. Beck, München 2012. 415 Seiten, 26,95 €.

Angelika Brauer

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