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Kultur: Küche des Lebens

Sehnsucht nach Wurzeln: Wallace Stegners brillanter Roman „Die Nacht des Kiebitz“

Der Literaturagent Joe Allston, an die siebzig und raus aus dem Job, ist ein Zuschauer des Lebens. Mit seiner Frau Ruth bewohnt er am liebsten das behagliche Schlafzimmer und öffnet sein Haus im kalifornischen Bergland nur noch einigen Freunden, deren Reihen sich allmählich ausdünnen. Schneit einmal ein Überraschungsgast aus früheren Zeiten herein, gerät das Ehepaar aus der Balance, zumal wenn es aus Kübeln gießt und der Strom ausgefallen ist.

Als „Spectator Bird“ hat Wallace Stegner diesen Protagonisten sinnfällig aufs Deckblatt gehoben, und allein der deutsche Verlag, der nun den zweiten Roman dieses brillanten amerikanischen Erzählers zugänglich macht, mag wissen, warum daraus nun ein Kiebitz geworden ist. Nicht nur vermisst der kahle Joe die unverwechselbare schwarze Federkappe des Charaktervogels, das Rheuma macht ihm auch den Weg zum Briefkasten zur Qual und sein „kiewitt“ klingt zum Leidwesen seiner Frau gar nicht mehr lustig wie früher, sondern meist ziemlich schlecht gelaunt. Manifeste Alterskrise, wie sein Arzt-Freund Ben diagnostiziert.

Bei einem dieser schmerzhaften Gänge findet Joe eines Tages eine Ansichtskarte einer alten Freundin aus Dänemark in der Post. Ihm fallen drei vergessene Hefte in die Hände, in denen er, ganz gegen seine Gewohnheit, die Reise nach Dänemark und die unglaublichen Ereignisse des Jahres 1954 festgehalten hat. Während die ruhigen, nur durch gelegentliche Einbrüche von außen aufgestörten Tage des Paares weiterperlen, ermutigt Ruth ihren Mann, ihr die zwanzig Jahre zurückliegende Geschichte vorzulesen, in der Erwartung, nicht nur ein Geheimnis zu lüften, sondern auch, um ihn aus seiner Lethargie zu reißen.

So besteht der Hauptteil des Romans aus dem Wechsel von Tagebuchpassagen, die vom Ehepaar erinnernd kommentiert werden, und der Gegenwart des kalifornischen Paradieses, das allerdings ebenso zu bröckeln beginnt wie Joe Allstons Körper. Selbstironisch besingt der "Kiebitz" seinen Rückzug aufs Land, "keine Flucht, sondern zivilisatorischer Fortschritt" und "ein bisschen zu verbissen" verteidigt. Dass in dieses eifersüchtig gehütete Refugium nun die jungen Aufsteiger aus der Stadt einbrechen, deren Siedlungen die Landschaft zerfressen, "verletzt die Gottgerechten des Öfteren".

Von einer tatsächlichen Flucht handelt indessen das Tagebuch, das fremd wirkt „wie ein Brief des toten Joe Allston an einen Joe Allston, der überlebt hat.“ Anlass der Reise nach Dänemark war der Tod des einzigen Sohnes und die drückende Schuld, die den Vater umtreibt. Auf den Spuren von Joes Mutter, die als 16-Jährige unter ungeklärten Umständen Dänemark verließ und in der Neuen Welt ihr Glück suchte, begegnet das Ehepaar in Kopenhagen einer geheimnisvollen Gräfin und wird in deren Familiengeschichte verstrickt. Diese novellenförmige Binnenerzählung, in der die Schriftstellerin Karen Blixen eine Rolle spielt und ein ehemals berühmter, unter dem Namen Rødding allerdings nicht nachweisbarer dänischer „Dr. Faustus der Genetik“, wird kriminalistisch aufgerollt und versetzt die gleichförmige kalifornische Gegenwart in Spannung. Wie schon in seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman „Zeit der Geborgenheit“ erweist sich Stegner als virtuoser Arrangeur der verschiedenen Zeitebenen, die er mit illuminierenden Landschaftsbeschreibungen verschachtelt, mit wortwitzigen Dialogen und beiläufig-klugen Betrachtungen.

Und wie dort scheint auch dieses Mal eine – erfolgreiche – Ehegeschichte den Kern zu bilden. In einer tieferen Schicht des Romans jedoch, jenseits der Schrecken des Alterns, der Flucht vor Nähe und der gleichzeitigen Angst vor dem Alleinbleiben, wird eine kulturgeschichtliche Suchbewegung thematisiert. Dieser Joe Allston, der „ohne hehre Absichten, ohne Tragödien oder auch nur Pathos die Küche des Lebens“ durchquert hat und „trotzdem hungrig bleibt“, dringt am Ende nicht nur zu einer verdrängten Leidenschaft vor, sondern auch zu seinen Ursprüngen, die in dem geschichtslosen Land gekappt wurden. „Wonach suche ich überhaupt“, fragt er sich an einer Stelle und räsoniert über den fragwürdigen Gewinn der Freiheit, den die Europäer gegen die „Sicherheit der Nationalitäten und Kulturen“ eingetauscht haben.

Damit gewinnt auch der zunächst nur oberflächlich erscheinende biographische Bezugspunkt des Romans – Stegner bewohnte von 1948 bis zu seinem Tod 1993 in den kalifornischen Los Altos Hills ein kleines Anwesen – eine Dimension, über die das Nachwort in „Zeit der Geborgenheit“ Auskunft gibt. Kann man nicht bleiben, wo man geboren ist, überliefert T.H. Watkins Stegners Überzeugung, sucht man nach Orten, wo man wurzeln kann. Die Sehnsucht nach solchen Orten bestimmte Stegners Leben und gaben, so Watkins, seinen Erinnerungen die Präzision. Eben diese sprachliche und gedankliche Genauigkeit, gepaart mit dem Mut ironischer Selbstaussetzung, machen Stegners Romane in der vorzüglichen Übersetzung von Chris Hirte zu einer selten gewordenen Lektüreerfahrung.

Wallace Stegner: Die Nacht des Kiebitz. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. dtv, München 2009. 278 S., 14,90 €.

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