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Kultur: Kühler Wohnen

Hannover: Jossi Wieler und Sergio Morabito knipsen bei Debussys „Pelléas et Mélisande“ das Licht an

Nie war es so hell. Mit Licht geflutet das alte kalte Schloss, ausgeleuchtet bis in den letzten Winkel die unterirdischen Grotten, strahlend weiß der finstere Wald. „Pelléas et Mélisande“, Debussys Oper des Halbdunkel, taucht an der Staatsoper Hannover aus den Tiefen des kaum Sichtbaren auf, verlässt den mattgoldenen Rahmen eines düsteren Stilllebens. Eingemottet sind die schweren Teppiche, im Magazin lagern still die Interieurs jener finsteren Wohnsärge, in denen einst die Familie als Hort der Neurosen dingfest gemacht wurde. Gegen den grauen Grund des Unterbewussten verfolgt das gefeierte Regieteam Jossi Wieler und Sergio Morabito einen Plan zur Abschaffung der Finsternis. Debussys Königreich Allemonde ist für sie eine weiße Zimmerflucht, aufblitzend zwischen sachlicher Büroökonomie, klinischer Sauberkeit und kühler Wohnen. Ein Raum, in dem Menschen keine Schatten mehr werfen.

Dort irrt Mélisande umher, eine Bedürftige, eine kleine Diebin, zieht die Schubladen eines Rollcontainers auf und findet mit sicherer Intuition jene Kekstüte, die sich dort in jedem Büro der Welt verbirgt. Schnell noch ein Schluck aus der Vittel-Flasche, doch da hat Golaud, der bullige Chef dieser lichten Etage, den Eindringling bereits bemerkt. Und vor ihm steht eine Frau, kein Nixenwesen mit wallendem Haar, in dessen kindlich-unergründlicher Sinnlichkeit sich Männer verhaken wie in einem engmaschigen Schleppnetz. Nein, diese Mélisande, obgleich vorsichtig und verrätselt in ihren Auskünften wie beim Formulieren einer Kontaktanzeige, erkennt ihre Chance auf eine neue Existenz – niveauvoll und finanziell unabhängig.

Sie greift zu und findet sich in einer Familie wieder, in der scheinbar alles ganz easy zugeht. Zwar ist etwas unklar, wer nun eigentlich zu wem gehört, auch gibt es keine erkennbaren Generationsgrenzen, aber wen stört das schon. Opa König Arkel (mit Zeug zum sanften Guru: Xiaoliang Li) hat sich verdammt gut gehalten in seiner Jeans und raucht gerne mal ein Haschpfeifchen, Mutter Geneviève (Danielle Grima) begrüßt alles und jeden mit Überschwang, so dass ihre wallenden Gewänder lustig tanzen, und Golauds Bruder Pelléas ist ein gut gebräunter Surfer mit naheliegendem Schönwettergemüt. Schließlich fegt durch die helle Halle noch Yniold, Golauds Kind aus erster Ehe, ein zorniges Energiebündel, das das blumengeschmückte Familienheim spielerisch mit Krieg, Verwüstung und Tod überzieht. Niemand wehrt diesen Anfängen. Zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Laissez-faire gibt es zwischendurch eine kleine Nackenmassage. Die Tragödie, zumal in ihrer bürgerlichen Darreichungsform als tödliche Dosis Eifersucht, scheint in diesem liberalen Kreis ganz und gar unmöglich.

Eine sanfte Woge des Unmuts rollt durchs Publikum: Droht hier wieder so eine schlappe Attacke auf die Generation der 68er, angeführt von ihren bleichen Kindern, die alles haben können, aber trotzdem nicht glücklich sind? Kleines Ja, großes Nein.

Wieler und Morabito entwickeln ihre Deutung konsequent aus der Ästhetik von Textdichter Maurice Maeterlinck, dessen Ablehnung klassischer (Bühnen-)Konflikte in eine von Moral, Herrschaft und Zeitlichkeit befreite Zone einzumünden sucht. Von dort aus lässt sich das ewige traurige Krabbeln der Menschen am besten beobachten. Nicht umsonst war Maeterlinck auch ein großer Insektenforscher, ein fasziniert-melancholischer Beobachter des Lebens. Doch wie wachsen Jugendliche heran, denen immer nur amüsiert zugesehen, aber keinerlei Konfliktpotenzial mehr angeboten wird? Die mit Kinderzunge schon den schalen Geschmack der Grenzenlosigkeit gekostet haben? Sie bleiben beziehungslos, weil sich die Eltern aus ihrer Rolle verabschiedet haben, keine Angriffsfläche mehr sein wollen. Golaud und Pelléas, die Brüder, geschäftstüchtig und sportlich, eiern durchs Leben. Spiel und Ernst scheinen unentwirrbar verfilzt, Traum und Realität fließen unvermittelt ineinander. Mit mörderischen Folgen.

Verwirrend elegant schmiegt sich die Inszenierung von Wieler und Morabito an ihre Vorlage, verbiegt sich aber nie. Das permanente Changieren zwischen Innen- und Außensicht der Figuren gewinnt in Debussys Urfassung ohne die von ihm gehassten, lähmenden, allein der damaligen Theatertechnik geschuldeten Zwischenmusiken hypnotische Kraft. Und wird mitreißend genau gespielt: Wie Will Hartmanns Pelléas sich im Neoprenanzug zögerlich und mit vorgetäuschter Virilität an die schmerzhafte Grenze zur Realität herantastet, ist bewegend. Die Verlorenheit von Oliver Zwargs von Eifersucht verheertem Golaud berührt wie die ins Leere taumelnde Schutzsuche von Alla Kravchuks versehrter Mélisande. Ein auf hohem Niveau gesungener, packender Theaterabend mit Musik, die das Staatsorchester Hannover unter Shao-Chia Lü ohne trügerisches Gleißen mit feiner, beständiger Milde um die ruhelosen Protagonisten legt.

Wieder am 16., 18. und 24. April.

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