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Das Ensemble Krétakör seziert in seinem Stück "Korruption" die politische Situation in Ungarn.

© Krétakör

Kultur in Ungarn: Schöne neue Demokratie: Zu Besuch beim Ensemble Krétakör

Die Regierung Ungarns bedrängt kritische Künstler und Medien immer mehr. In Budapest bringt das legendäre Ensemble Krétakör dennoch sein Stück „Korruption“ heraus. Ein Besuch.

Die Zeit des Aufstands ist gekommen. Geschlossen erheben sich die Zuschauer und skandieren auf Ungarisch, was die englischen Übertitel als Wutparole „I’m fucking mad and angry“ wiedergeben. Okay, es sind Theaterleute, die hier das Publikum zum Kollektivprotest animieren. Aber Grund genug haben sie in Ungarn, verflucht außer sich und wütend zu sein. Vor allem an diesem Abend, in einer entlegenen Halle der Budapester Mafilm Studios, wo die Company Krétakör ihre jüngste Arbeit „Korrupció“ zur Premiere bringt. Korruption. Regisseur Márton Gulyás inszeniert einen Sumpf mit Gesang. Eine dokumentarisch und musikalisch befeuerte Saga über eine schrecklich nette Familie aus der oberen Gesellschaftsschicht, die sich in munterer Verflechtung von Politik und Privatunternehmertum die Taschen füllt. Er führt Gewinnertypen vor, die sich noch jedem System anpassen könnten. Und zeigt die Linie, die vom postsozialistischen Selbstbedienungsland in die unmittelbare Orbán-Gegenwart führt. In Ungarn nichts Neues?

Gulyás sitzt im Produktionsbüro von Krétakör nahe der alten Markthalle in Budapest und spricht über Theater in Zeiten einer Krise, die Alltag geworden ist. Der ungarischen freien Szene geht es nicht gut, die staatlichen Subventionen werden kontinuierlich gekürzt. Die Gruppe Krétakör (übersetzt Kreidekreis), Mitte der 90er von Árpád Schilling gegründet und längst auch im Ausland eine Größe, erhielt noch 2009 eine Viertelmillion Euro pro Jahr. Heute sind es gerade mal 35 000 Euro. „Davon können wir die Company zweieinhalb Monate unterhalten“, sagt der Regisseur und Geschäftsführer. Über die Zuwendungen entscheidet in letzter Instanz ein Komitee, dem Attila Vidnyánszky vorsitzt. Jener regierungsnahe Intendant, der den geschassten Róbert Alföldi am Ungarischen Nationaltheater abgelöst hat. Das Stück „Korruption“, erzählt Guylás, mussten sie komplett aus eigenen Ressourcen stemmen. Und am Rande: Für die Gruppe war es hoch problematisch, überhaupt einen Aufführungsort zu finden. Es hagelte reihenweise Absagen.

Unterstützt wird Krétakör von den „Open Society Foundations“ des Investment-Wohltäters George Soros. Auch von privaten Unternehmen, die dafür nach ungarischem Recht Steuervergünstigungen erhalten. Das Ziel ist, sich von der öffentlichen Hand so unabhängig wie möglich zu machen. „Selbst wenn Orbán nächstes Jahr abgewählt werden sollte“, sagt Gulyás, und er glaubt nicht daran, „wäre es zu riskant, sich noch auf den Staat zu verlassen.“

Derzeit erreichen uns fast ausschließlich grelle Nachrichten aus Ungarn. Von Ausfällen der faschistischen Jobbik-Partei, der drittstärksten Kraft im Parlament. Von hohen Auszeichnungen, die von der Fidesz-Regierung an antisemitische TV-Moderatoren, Wissenschaftler und Rocksänger vergeben werden. Von Gesetzen, die das demokratische Fundament immer weiter aushöhlen. Längst fragt sich, ob das Land auf dem Weg zum Regime ist – Orbáns Viktatur?

Márton Gergely ist Journalist bei der größten linksliberalen Tageszeitung des Landes, Népszabadság. In einem Einkaufszentrum nahe den Redaktionsräumen setzt er dem Besucher geduldig und in bestem Deutsch die Situation seines Landes und seiner Branche auseinander. Wie wirkt sich etwa das neue Mediengesetz aus, das Orbáns Fidesz erlassen hat – und das es unter anderem erleichtern soll, Journalisten wegen Verleumdung vor Gericht zu stellen? „Ein Gewehr, mit dem noch nicht geschossen wurde“, nennt Gergely den Erlass. Nichts, was die tägliche Arbeit beträfe. Aber wirksam als Bedrohung. Nein, um die Medien ist es nicht gut bestellt in Ungarn. Die hoch subventionierten staatlichen Radio- und Fernsehsender sind mit zentraler Nachrichtenredaktion de facto gleichgeschaltet. Die Zeitungen leiden derweil, wie in ganz Europa, unter Auflagenschwund. „Staatliche Anzeigen werden nach dem Belohnungsprinzip vergeben“, sagt Gergely. „Wer sich darauf nicht verlassen kann, lebt in ständiger ökonomischer Ungewissheit.“ Und schließt: „Wir ersticken langsam.“

Deutsches Verdienstkreuz an ungarischen Minister

Das Ensemble Krétakör seziert in seinem Stück "Korruption" die politische Situation in Ungarn.
Das Ensemble Krétakör seziert in seinem Stück "Korruption" die politische Situation in Ungarn.

© Krétakör

Zurück in die frühen neunziger Jahre. Politiker und andere Goldgräber sind verstrickt in kriminelle Machenschaften um staatlich gefördertes Heizöl, das geraubt, gebleicht und als Diesel teuer weiterverkauft wird. Der Fidesz verschachert derweil das Gebäude seiner Parteizentrale – und investiert den Gewinn unter anderem in eine Firma, die Orbáns Vater gehört. Der Sündenfall. So erzählt es Regisseur Márton Gulyás. So zeigt er es, satirisch überspitzt, in seinem Stück „Korrupció“. Darsteller János Koós – laut Gulyás der ungarische Frank Sinatra – singt dazu in zartestem Schmelz Lieder über die selige Heimat. Der Text ist mit Zitaten von Viktor Orbán, Ludwig Wittgenstein und Ulrike Meinhof aufgeladen, Performerinnen in Pussy-Riot-Maskerade entern zwischendrin die Bühne. Es ist ein Rundumschlag mit Agitprop-Wucht, überladen, aber ungeheuer kraftvoll. Er bringt die Verhältnisse zum Tanzen. Und beweist, dass Durchblick eine Illusion ist.

Links? Rechts? Das sind keine klaren Fronten in Ungarn, 23 Jahre nach der Wende. Kürzlich gab es wieder einen Skandal. Der Ex-Nationaltheater-Intendant Róbert Alföldi – momentan Fernseh-Juror der ungarischen Ausgabe von „X-Faktor“ – inszenierte die Rockoper „István, a király“ („Stefan, der König“). Ein Musical aus dem Jahr 1983 über den ungarischen Gründungsmythos. Geschrieben von János Bródy, komponiert von Levente Szörényi – die beiden waren mal so was wie die ungarischen Beatles. Bródy ist Liberaler, Szörényi stockkonservativ. „Dass die beiden überhaupt zusammenarbeiten können, ist schon allerhand in Ungarn“, sagt Journalist Gergely. Dass wiederum der bekanntermaßen homosexuelle Alföldi bei dieser Magyaren-Sause Regie führte, rief rechtsextreme Demonstranten auf den Plan. Also Nationalisten gegen Freidenker? Ganz so einfach ist es wohl nicht. „Árpád Schilling vertritt die These, dass der Skandal um Alföldi her musste, um den Kartenverkauf anzuheizen“, so Gergely. „Für ihn ist diese Rockoper schlicht Kitsch. Ein Rührstück für Menschen, die in den 80er Jahren jung waren.“

Keine gute Zeit für Heldengeschichten. „Weil Sie aus Deutschland kommen“, beginnt Krétakör-Künstler Gulyás, müsse er noch etwas loswerden. Ob man wisse, dass Anfang Juni Bundespräsident Joachim Gauck den ungarischen Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog, mit dem großen Verdienstkreuz auszeichnen ließ – jenen Balog, der 1989 als evangelischer Pfarrer DDR-Flüchtlinge betreut hatte und der heute für Bildung, Kultur, Soziales und vieles mehr verantwortlich ist? „Am gleichen Tag hat Balog ein Gesetz durchs Parlament gebracht, das die Schaffung gesonderter Schulen für Roma-Kinder vorsieht“, schüttelt der Regisseur den Kopf. „Balog nannte das Segregation mit Liebe.“

Wie gerade die Ärmsten unter den ungarischen Roma durch Steuergesetze und Kürzung des Arbeitslosengeldes in die totale Verelendung getrieben werden, beschäftigt auch Márton Gergely: „Der Hass wächst. Und die Gesellschaft verroht immer mehr. Diese Spirale bereitet mir Sorgen.“

Auf der Bühne in den Filmstudios singt das „Korrupció“-Ensemble am Abend „Democracy is finally here“, willkommen, schöne neue Demokratie. Ein Lied mit Haifischlächeln.

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