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Kultur und Wissenschaft: Offenbarung der Vernunft

Die Welt vor und nach Humboldt: Warum die Wissenschaft in eine Kultur integriert werden muss. Und eine Konfrontation mit der Frage: Welchem Konzept wollen wir in Zukunft folgen: Humboldts oder dem seines Vorgängers?

Eine Kultur, die die wissenschaftliche Sicht auf die Welt zu ihrem Bestandteil macht, versteht sich nicht von selbst. Kulturen können ohne Wissenschaft auskommen, und der Blick auf die moderne Welt zeigt, dass es möglich ist, das Instrument der Wissenschaft als technische und ökonomische Ressource zu nutzen, ohne die wissenschaftliche Weltsicht in das eigene kulturelle Selbstverständnis aufzunehmen. Aber lässt sich die wissenschaftliche Weltsicht vom kulturellen Selbstverständnis auf Dauer trennen? Und was bedeutet dies für unser Selbstverständnis?

Für die europäische Welt fällt die Entscheidung für eine kulturelle Integration der wissenschaftlichen Weltsicht schon früh. Sie ist eng verbunden mit der Entstehung der mittelalterlichen Universität, und ihr Verlauf ist durchaus dramatisch. Denn was der lateinisch sprechende Westen Europas nach dem Ausgang der Völkerwanderung von der antiken Bildungswelt hat bewahren können, ist etliches, aber keineswegs alles.

Man kennt das Bildungsgut der sieben freien Künste, einen Teil der aristotelischen Logik und die neuplatonische Weltdeutung. Das Potenzial reicht aus, um im 12. Jahrhundert einen Willen zur Rationalität zu entwickeln und in Form der Scholastik eine Verwissenschaftlichung der theoretischen Weltsicht in Angriff zu nehmen. Sie ergreift die Medizin, das Recht und auch die Theologie, die man als die Disziplin begreift, die die Wissensbestände der sieben freien Künste umgreift und überwölbt.

Doch was eine umfassende wissenschaftliche Weltsicht bedeutet, wird erst offenkundig, als die großen Werke des Aristoteles ab 1150 auch im Westen wieder bekannt werden: die Naturwissenschaft (Physik, Kosmologie, Biologie), die praktische Philosophie (Ethik, Politik), die Theorie der Wirklichkeit (Metaphysik) und nicht zuletzt die Wissenschaftstheorie (Zweite Analytiken). Und man liest nicht nur die aristotelischen Schriften, sondern lernt auch die Wissenschaftskultur kennen, die sich aus diesen Texten bei den großen islamischen und jüdischen Gelehrten entwickelt hat. Sie gipfelt in den umfangreichen Kommentaren, die der in Cordoba wirkende arabische Philosoph Ibn Rushd (Averroes) dem Werk des Aristoteles gewidmet hat und die ab 1230 vollständig im Lateinischen vorliegen.

Was man da entdeckt, ist eine Weltsicht ganz neuen Typs. An die Stelle der Metapher tritt der Begriff, statt der Autorität benutzt sie das Argument und stützt sich auf nichts anderes als das, was die natürliche Vernunft zu erkennen vermag, und dies in der Form rational begründeten Wissens. Die neue Sicht fasziniert und beunruhigt zugleich, steht doch vieles in Spannung, ja in Widerspruch zur christlichen Offenbarung: Da wird eine Welt gezeigt, die nicht einer Schöpfung entspringt, sondern die seit Ewigkeit nach notwendigen Gesetzen verläuft. Da lernt man eine Ethik kennen, die das Konzept eines gelungenen menschlichen Lebens ohne Glauben an Erlösung beschreibt. Da wird das Denken an ein überindividuelles Vernunftvermögen gebunden, das gleichsam in allen denkt.

Kein Wunder, dass gegen Mitte des 13. Jahrhunderts eine heftige Auseinandersetzung beginnt, in der verschiedene Optionen aufeinanderprallen: Theologen wie Bonaventura versuchen, das vertraute Modell einer einheitlichen Sicht der Welt mit der Theologie als der alles integrierenden Spitze noch einmal zu erneuern und von dem neuen Wissen das zu integrieren, was dazu passt. Der Artistenmagister Siger von Brabant und andere plädieren dafür, die tradierte Glaubenssicht und die neue wissenschaftliche Weltsicht als je autonome Wissenswelten nebeneinander stehen zu lassen. Und an manchen Orten nehmen die zuständigen Autoritäten Zuflucht dazu, den Gebrauch der aristotelischen Texte im Unterricht gar nicht erst zuzulassen.

Angesichts der geringen Überzeugungskraft dieser Vorschläge, und erst recht der Verbote, verwundert es nicht, dass sich dagegen der entschlossene Versuch durchsetzt, sich auf das Andere der wissenschaftlichen Vernunft positiv, aber zugleich kritisch einzulassen. Theologisch ist dies ohnehin geboten: Denn wenn der Gott der Offenbarung der Ursprung der Schöpfung, und damit auch der menschlichen Vernunft ist, können Glaubens- und Vernunftwahrheiten prinzipiell nicht einander widersprechen. Doch bleibt die große Frage, wie sie einander wissenschaftlich überzeugend zugeordnet werden können.

Die Antwort auf diese Schlüsselfrage gibt im lateinischen Westen Albertus Magnus (1200-1280), Theologe, Philosoph, Naturwissenschaftler. Das Konzept nimmt er von Aristoteles selbst und folgt dabei den islamischen Aristotelesanhängern Alfarabi und Avicenna. Denn für Aristoteles ist der Mensch, wie er am Anfang seiner Metaphysik schreibt, „das Wesen, das wissen will“ und deshalb nach dem Ganzen der Wirklichkeit und seinen ersten Ursachen fragen muss. Doch stellt Aristoteles zugleich fest, dass die menschliche Vernunft das Ganze und das Erste nicht in einem einzigen Hinblick erfassen kann, sondern nur in einer Vielheit verschiedener wissenschaftlicher Wissensweisen.

Der fehlende „Gottesgesichtspunkt“ auf das Ganze ist deshalb durch ein Netzwerk von verschiedenen wissenschaftlichen Wissensweisen zu ersetzen, jede eigenständig, aber mit Schnittstellen zu den anderen. Es ist diese Wissenschaftstheorie, die schon die arabischen Gelehrten in Bagdad dazu nutzten, die islamische Theologie (kalam) mit der aristotelischen Wissenschaft zu versöhnen, indem sie an die Stelle einer Enzyklopädie der Inhalte eine Enzyklopädie der wissenschaftlichen Disziplinen setzten.

Mit eben diesem Schlüssel, den er bei Avicenna findet, nimmt Albert der Große die von Aristoteles verfolgte Intention einer wissenschaftlichen Weltsicht auf, um das sich daraus ergebende Netzwerk von Wissensweisen, wie er schreibt, „den Lateinern zugänglich zu machen“. Deshalb kommentiert er in mehr als zehnjähriger Arbeit in 36 Werken die von Aristoteles vorgelegten oder in den Blick genommenen Wissenschaften, einschließlich aller naturwissenschaftlichen Disziplinen.

Was er vorlegt, ist mehr als ein Kommentar. Albert scheidet aus, was Aristoteles aufgrund ungeprüfter Weltbildimplikationen gelehrt hat, fügt ein, was der Fortschritt der Wissenschaften inzwischen ergeben hat, und ergänzt, wo bei Aristoteles Lücken sind. Dazu versieht er die einzelnen Werke in Prologen und Einschüben mit einer Wissenschaftstheorie, die zeigt, wie sich das Erkenntnisstreben des Menschen auf kritische Weise erfüllen lässt. Vor allem aber ergänzt er das von Aristoteles konzipierte Netzwerk durch die Einführung der Theologie als einer Wissenschaft eigener Art.

Auch das versteht sich nicht von selbst. Denn es bedeutet, die Rolle der Theologie als einer alles umfassenden Einheitswissenschaft aufzugeben, ihr dafür aber einen Ort unter den Wissenschaften zu geben – als eine zwar auf Glauben zurückgehende, aber zum rationalen Dialog fähige Disziplin.

Das aristotelisch-arabische Netzwerk der Wissenschaften erfährt damit eine deutliche Dimensionserweiterung: Denn mit der Theologie wird eine neue Gruppe von Disziplinen zu einem Gegenstand der Wissenschaften, nämlich diejenige, die nicht nur auf Wahrheit abzielt, sondern auf Sinn. Gerade diese Erweiterung aber erlaubt es, den Horizont zu reflektieren, der dem auf Wahrheit zielenden wissenschaftlichen Erkenntnisstreben seine spezifisch kulturelle Bedeutung gibt.

Denn zur kulturellen Größe wird Wissenschaft erst, wenn sie sich als ein Weg zur „Weisheit“ erweist, als ein Weg zu Wissen, das Orientierung erlaubt und verantwortliches Handeln möglich macht. Verbindet sich Verfügungswissen mit Orientierungswissen, dann ist „Wissenschaft“ nicht nur ein Verfahren des Erkenntnisgewinns, sondern auch ein Bildungsprozess.

In der griechisch-jüdisch-islamischen Kultur ist dieses Konzept auf die Zirkel der Experten beschränkt geblieben. Im lateinischen Europa gewinnt es in Form der sich nach dem Pariser Vorbild entwickelnden Universität eine dauerhafte institutionelle Gestalt. Mehr noch: Das Curriculum der wissenschaftlichen Disziplinen wird, wie Dante, der Dichter und Intellektuelle, eindrucksvoll deutlich macht, zum Bildungsideal einer ganzen Kultur.

Es ist diese Idee der „Bildung durch Wissenschaft“, die Jahrhunderte später Wilhelm von Humboldt zum Ausgangspunkt seiner Universitätsreform macht und die die europäische Universität zum weltweiten Exportartikel werden lässt. Konfrontiert mit Alberts und Humboldts Projekt bleibt die Frage an uns: Welchem Konzept wollen wir in Zukunft folgen?

Der Autor ist Otto Warburg Senior Research Professor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität und forscht zu den geistigen Ursprüngen der Idee der Universität. In der Berlin University Press ist zuletzt sein Buch „Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Mittelalter“ erschienen.

Ludger Honnefelder

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