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Kulturdebatte: Reich an Wissen und Kreativität - arm an guter Politik

Schluss mit "Be Berlin", Leistungsschau und Tourismusbroschüren - Das Kulturressort muss Kreativität als Rohstoff begreifen und fördern. Ein fiktiver Fan-Brief an die künftige Kultursenatorin.

Vor den Wahlen am 18. September haben wir Kulturfreunde und Künstler gebeten, ihre Wünsche für Berlin zu formulieren. Den Anfang machte am 23. 8. Peter Raue, heute schreibt die Kuratorin und Publizistin Adrienne Goehler, die 2001 selbst Kultursenatorin war. Als nächstes: Gabriele Horn, Chefin der Kunst-Werke.

Liebe Senatorin für Kultur, Wissenschaft und Forschung, ich ziehe meinen Hut vor Ihrer Energie, Ihrem Verhandlungsgeschick und dem Tempo, mit dem Sie nach wenigen Monaten im Amt diverse Eseleien der letzten Legislaturperiode beendet haben. Eseleien, die aus purer persönlicher Unverträglichkeit des Regierungschefs mit dem Fachsenator fünf Jahre die Wissenschaft und Forschung zur Nebentätigkeit des „Supersenators“ für Schule machten. Das Kulturressort wurde zu einer Abteilung des Regierungschefs degradiert, in der er sich wie in einem Schaufenster spiegelte. So hat die Kunst dann auch ausgesehen, die seine Aufmerksamkeit bekam: laut, knallig, Leistungsschau, wie für Tourismusbroschüren formatiert: be dit, be dat, be irgendwat.

Sie dagegen gaben sofort zu verstehen, dass Kultur mehr ist als Premierenfeier und Vernissage, als Sitzplatzauslastung und Preisverleihung. Weil sie, wie die Politik auch, den Diskurs benötigt, um lebendig und entwicklungsfähig zu sein. Dafür aber braucht Kultur Zeit und konkrete politische Gegenüber, die sich auf Prozesse einlassen, die Runde Tische nicht nur als ein schönes Relikt der DDR erinnern, sondern als Voraussetzung begreifen, um Leben und Arbeiten gemeinsam zu gestalten, mit all dem Wissen und Wollen, das in Berlin reichlich vorhanden ist.

Kreativität ist ein Rohstoff: Was Berlins prekäre Wirtschaftslage damit zu tun hat, lesen Sie auf Seite 2.

Wissen verstehen Sie hierbei in Anlehnung an den Soziologen Karl Mannheim als Summe naturwissenschaftlich-technischen, künstlerisch-ästhetischen und gesellschaftlichen Wissens. Klassische Wirtschafts- und Sozialkonzepte können Berlins ökonomische Anorexie nicht überwinden. Sie haben erkannt, dass die Künstler- und WissenschaftlerInnen herangezogen werden müssen für die immensen Herausforderungen dieser postindustriellen Stadt, mit hoher Erwerbslosigkeit, einer zu großen Anzahl prekär lebender Menschen und gleichzeitig einem überschießenden Reservoir an Ideen, Fragen, Handlungskonzepten für die Stadtgesellschaft. Wenn es jetzt selbst Herrn Schirrmacher von der „FAZ“ dämmert, dass sich gerade radikal etwas ändert, ändern muss, dann könnten wir in Berlin ja schon einmal zur Gestaltung des Neuen übergehen.

Deshalb teilen so viele Ihre Überzeugung, dass in den letzten Jahren so viel mehr an Entwicklungen einer Hauptstadt hätte erwartet werden dürfen. Leider lagen Kultur, Wissenschaft, Forschung, Bildung und Stadtentwicklung in einer Hand, allein bei der SPD, ohne mögliche profilneurotische Störfeuer des Koalitionspartners. Nein, aus dieser seltenen Chance sind keinerlei wahrnehmbare Synergien entstanden. Endlich ist jetzt auch aus Regierungsmund zu hören, dass die Hauptstadt sich zum Erkundungsfeld für den Umbau von Gesellschaft anbietet. Als Laboratorium, das Anleihen bei anderen Formen des Wissens wie Handelns nehmen muss, da die Ökonomisierung aller Lebensbereiche Auswirkungen auf die kleinsten Verästelungen des Gemeinwesens hat. Es lässt aufhorchen, wenn eine Regierungsperson es zum Ausgangspunkt ihres Handelns macht, dass wir über keinen weiteren Rohstoff verfügen als den der Kreativität und deshalb pfleglich damit umzugehen haben. Kreative Produktion braucht Bedingungen, um sich zu entfalten. Sie evoziert andere Bedürfnisse an Stadt, an Stadtentwicklung.

Die wichtigen Diskussionen werden überhaupt nicht geführt. Stattdessen: Immer wieder das Stadtschloss. Lesen Sie weiter auf Seite 3.

Daher bedarf es, wie Sie sagen, der Durchlässigkeit zwischen den Ressorts, um Bildung, Soziales, Entwicklung von Stadt und Arbeit aufeinander beziehen zu können. Einer Regierung könne es nicht wurscht sein, wie viele Cultural and Scientific Creatives, dem einzigen Pfund, mit dem die Stadt wuchern kann, unter dem Existenzminimum leben. Deshalb haben Sie begonnen, sich in die Diskussionen um das bedingungslose Grundeinkommen einzumischen, und verblüfften mit der kühnen Idee, die Hauptstadt sollte sich als wissenschaftlich begleiteter Erprobungsort für dessen Einführung bewerben. Damit könnte Berlin wieder einmal Geschichte schreiben, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, anders als mit aussichtslosen rituellen Olympia-Bewerbungen.

Auch Ihre Anmerkung, nicht nur überkommene Bahnhofs- und Geschwindigkeitsbeschlüsse würden Fragen aufwerfen, sondern auch Stadtschlösser, die nach über zehn Jahren Diskussion noch nichts Zwingendes über ihre inhaltliche Bestimmung erzählen können, hat mich wieder munterer gemacht. Erst recht ihre charmante und ungläubige Frage, ob denn niemandem auffällt, dass offenbar besonders die fähigen Frauen, die etwas bewegen wollen, Berlin den Rücken kehren. Man müsste keineswegs dem Jugendlichkeitswahn erliegen, aber es sei doch weder Hauptstadt- noch zeitgemäß, dass dort, wo öffentliches Geld, hohe Positionen und hohe Reputation zu verteilen sind, in Berlin ausschließlich Männer sitzen. Männer, deutsch, im pensionsberechtigten Alter, stehen lebenslänglich öffentlich finanzierten GmbHs vor und machen dort, was sie wollen. Roger Boyes attestierte diesen monotypischen Berliner Männerfreundschaften im Tagesspiegel „eine geradezu sizilianische Qualität“.

Es beeindruckt auch, dass Sie aus der Berliner Besonderheit, als Kultursenatorin für „Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ zuständig zu sein, kein Treffen von Funktionsträgern der drei monotheistischen Religionen machen. Sie versammeln stattdessen die vielen anderen Religionsgruppen, die NichtReligiösen – die ja die Mehrheit bilden – und Berliner Forschungseinrichtungen, um sich der Realität von über 250 Weltanschauungen zu stellen. Auch damit betreten Sie Neuland. Es macht Spaß, Ihnen beim Arbeiten zuzusehen! Genau so sieht Politik aus, die Lust macht, sich an ihr zu beteiligen.

Von einer jungen polnischen Berlinerin habe ich einen schönen Briefschluss gelernt, dem ich Verbreitung wünsche: Herzlichkeiten! Ihre Adrienne Goehler

Adrienne Göhler

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