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Kumpel, das ist Industriekultur. Die nächtlich erleuchtete "Zeche Zollverein" in Essen.

© AFP

Kulturhauptstadt: Achtung, Personen auf der Fahrbahn!

Außer Kohle nichts gewesen? Seit sechs Monaten ist das Ruhrgebiet Europas Kulturhauptstadt – eine Halbzeitbilanz.

Bedeutende Städte haben einen Rathausplatz oder eine Schlossfreiheit, eine Domplatte, eine Uferpromenade oder wenigstens einen Gendarmenmarkt. Die Ruhrmetropole hat die A 40. Die sechsspurige Autobahn ist das wahre Zentrum der 5,3-Millionen-Einwohner-Agglomeration, hier treffen sich täglich 100 000 mobile Menschen – meistens, um im Stau zu stehen.

Daher ist es auch nur folgerichtig, wenn das allergrößte Fest des Kulturhauptstadtjahrs am heutigen Sonntag auf der A 40 gefeiert wird. Über 30 Stunden lang sind die Fahrbahnen zwischen Duisburg und Dortmund gesperrt, auf einer Strecke von 60 Kilometern. In einer Richtung wird die längste Tafel der Welt aufgebaut, 20 000 Tische und 40 000 Biergartenbänke, auf der Gegenfahrbahn darf sich alles bewegen, was keinen Motor hat. Eine Million Besucher werden erwartet, die Hälfte von ihnen auf Fahrrädern und Inlineskates.

Traditionell wachsen Gemeinden rund um ein geistiges Zentrum, wobei die Wohnhäuser respektvollen Abstand zu den Prunkgebäuden der Mächtigen wahren. Die italienische Piazza gilt als Inbegriff europäischer Urbanität. Als sich das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert aus einer traurigen Heide- und Moorlandschaft in eine boomende Industrieregion verwandelte, gruppierten sich die Wohnviertel nicht um Kirchen oder Paläste, sondern um Zechen und Hütten. Hier wurde alles auf die Zweckbauten der Arbeitgeber ausgerichtet, Sichtachsen endeten am Werkstor oder am Förderturm. Als die Zeit des Kohlebergbaus und der Stahlgießerei zu Ende ging, verloren die Menschen im Revier nicht nur ihre Arbeitsplätze, sondern auch ihre räumlichen Bezugspunkte. Was ihnen zur Orientierung blieb, waren Einkaufszentren, errichtet zumeist auf der grünen Wiese. Und die Autobahnen.

Heute wirkt der 4435 Quadratkilometer große Ballungsraum zwischen Hamm und Xanten, Haltern und Hagen über weite Strecken wie ein endloser Vorort – längst mit sauberer Luft, längst viel grüner, als man es sich im Rest der Bundesrepublik gemeinhin vorstellt –, städtebaulich aber eben allein durch ein Gitternetz aus Schnellstraßen strukturiert.

Wenn an diesem ersten NRW-Ferienwochenende der Lebensader A 40 nun für einen Tag der Saft abgeklemmt wird, sieht „Ruhr2010“-Geschäftsführer Fritz Pleitgen darin nicht weniger als „etwas Verbindendes für das ganze Ruhrgebiet“. In den Siebzigern gab es die Ölkrise und autofreie Sonntage, im Kulturhauptstadtjahr gibt es die BP-Katastrophe weit weg an der US-Küste und einen symbolischen Festtag auf Asphalt, bei dem sich jenes vermaledeite Kirchturmdenken in Luft auflösen soll, das bislang noch jede gute Idee zum Wohle der gesamten Region zunichte gemacht hat.

„Stillleben Ruhrschnellweg“ lautet der offizielle Titel des Mittsommer-Events. Es soll aber keineswegs eine beschaulich- introvertierte Veranstaltung werden, sondern ein großes Volksfest. Genau das jedoch lässt allen weggezogenen Ruhrgebietlern die Nackenhaare zu Berge stehen. Gerade dieser unbezwingbare Drang ihrer Landsleute, aus allem eine Kirmes zu machen, hat sie ja von Emscher und Ruhr fortgetrieben.

Jeder, der für 25 Euro zzgl. Gebühren ein „Tischticket“ erworben hat, soll am 18. Juli zwar auch etwas „Kulturelles“ beitragen – doch die Organisatoren legen sicherheitshalber den weitestmöglichen Kulturbegriff an: Vom Pudelclub bis zum philosophischen Stammtisch ist alles dabei, auf Höhe des Kreuzes Kaiserberg werden 100 Bräute ihre Kleider vorführen, an der Ausfahrt Mülheim-Styrum reicht die Kochgruppe „BospoRuhrUs“ Leckereien. Auch Taubenzüchter, Tanzensembles, Star-Wars-Fans, die Malschule Bilderbude sowie das Mundharmonika-Trio Quintos aus Holzwickede werden erwartet.

Natürlich herrscht striktes Grillverbot, damit das „Autobahnbegleitgrün“ nicht in Brand geraten kann. 2700 Dixi-Klos sollen vermeiden helfen, dass es jenseits der Standspur hinterher nicht so aussieht wie weiland im Berliner Tiergarten nach den Liebesfesten der Raver. Gläser und Glasflaschen sind tabu – schließlich muss die A 40 binnen 12 Stunden besenrein an die motorisierten Verkehrsteilnehmer übergeben werden. Nächstes Wochenenende, am 24. Juli, wälzt sich dann die Loveparade durch Duisburg.

Ja, es ist leicht, sich über die Kulturhauptstadt im Ruhrgebiet lustig zu machen, die verkrampften Bemühungen der Verantwortlichen zu belächeln, es jedem recht zu machen. Wenn Fritz Pleitgen pathetisch dröhnt, dieses Projekt habe „das Potenzial, zum emotionalen Gründungsmoment der Metropole Ruhr zu werden“, macht er sich damit auch selber Mut. Fast alle 53 Städte der Region plagen sich mit Nothaushalten herum, nicht nur in Wuppertal sind die Theater akut gefährdet. Was die neue rot-güne Landesregierung bringen wird, ist ungwiss. Da gibt keiner gerne etwas ab. 140 Religionsgemeinschaften aus über 100 Nationen leben in diesem globalen Dorf beieinander. Da sieht jeder zu, dass er sich ein privates Eckchen schafft. Mein Kirchturm, meine Laubenkolonie-Parzelle, mein Gartenzwerg. Erschwerend kommt hinzu, dass hier, wo die Malocher so lange unter sich waren, jeder Akademiker schnell als überheblich gilt. Die erste Universität der Region wurde 1965 gegründet. Unter diesen Bedingungen ein Kulturhauptstadtjahr zu veranstalten, das den polyzentrischen Pott als zukunftsorientierte, geistig wache, schlagkräftige Einheit zeigt, wie es Essen und Co. bei der Bewerbung in Brüssel versprochen hatten, ist wahrlich nicht leicht.

Die meisten der 5000 Veranstaltungen, die das 216 Seiten starke Programmbuch auflistet, sind deshalb auch gar nicht für Kulturtouristen gedacht, sondern für die Leute vor Ort. Es gibt gezielt gesetzte Programmpunkte, die überregional Aufmerksamkeit erregen sollen, wie den beglückenden Abend Anfang Juni, als 65 000 Laiensänger die Schalke- Arena zum Klingen brachten. Es gibt die Bauvorhaben, die langfristig zur Attraktivität der Region beitragen, wie Chipperfields neues Folkwang-Museum in Essen oder Rem Kohlhaas’ zum regionalen Gedächtnisspeicher umgebaute Kohlenwäsche auf der Zeche Zollverein.

Wenn sich daneben jede Ruhrmetropolen-Stadt eine Woche lang als „local hero“ präsentieren darf, wenn Bewohner eines alternativen Wohnprojekts in einem Bergwerkslehrlingsheim, das zur NS-Zeit als Zwangsarbeiterlager genutzt wurde, historische Führungen anbieten, dann ist das kein Ausdruck von „Projektitis“. Nein, hier werden zu Recht kleine Brötchen gebacken, hier geht es um Stadtteilbelebung, um kulturelles streetworking. „Ruhr 2010“ hat es ermöglicht, dass viele, von lokalen Künstlern seit langem gehegte Visionen endlich Realität werden konnten. Und das in Bochum gestartete „Jeki“-Projekt, das allen Grundschulkindern kostenlosen Instrumentalunterricht spendiert, wurde dank des Jubeljahres auf 522 Schulen im ganzen Land ausgeweitet.

Wer in Berlin nach einem Theaterabend auf die Straße tritt, ist gleich mittendrin in der Stadt, braucht nur mitzuschwimmen im Strom der Unternehmungslustigen. Im Ruhrgebiet gibt es zwei Dutzend große Theater und Konzerthäuser, eine größere Bühnendichte als in der Hauptstadt. Doch wer hier am Ende einer Vorstellung die Ausgangstür aufstößt, findet sich umgeben von urbaner Brache, versiegelter, verdichteter Fläche zwar, aber ohne echtes Innenstadtgefühl. Wenn es im Kulturhauptstadtjahr gelingt, die Menschen zu motivieren, dass sie die historisch bedingten Eigenheiten ihrer Heimat nicht mehr ausschließlich als Mangel empfinden und sie die einzelnen Glanzpunkte der Region vor dem inneren Auge zur Metropole zusammendenken, dann hat „Ruhr 2010“ viel erreicht.

Weitere Infos unter: www.ruhr2010.de

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