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Essen

© Anna Sauerbrey

Kulturhauptstadt: Essen ist fertig

Die 50er Jahre waren die große Zeit. Rot-Weiss Essen, der Traditionsverein, war deutscher Meister. Von diesem Glanz ist in der Stadt nicht viel geblieben – jetzt will man sich in Kultur retten. "Aber wir sind doch eine Kohlestadt", sagt einer.

Von Anna Sauerbrey

Aus den Stadionlautsprechern dröhnt das Steigerlied. Glück auf, Glück auf. Mädchen schwenken auf dem Platz große Fahnen mit dem Emblem des Vereins. Der Schiedsrichter pfeift das letzte Spiel von Rot-Weiss vor der Winterpause an. Während die Spieler auf dem schneeglatten Platz herumschlittern, werden die Zuschauerblicke, dort, wo die Nordwestkurve sein sollte, ins dunkle Schneegestöber hinausgesogen. Die Nordtribüne endet in einem schiefen Schuttberg, die Anzeigentafel hängt an einem Baugerüst. Der Rest ist abgerissen, die Westtribüne schon seit 1994, wegen Baufälligkeit. „Das Stadion liegt da wie ein ausgeweidetes Reh“, sagt Manni Burgsmüller.

Was übertrieben ist. Denn tot ist das Reh noch nicht. Aber krank ist es, sehr krank. Und seine Krankengeschichte verläuft parallel zu der des Ruhrgebiets. Als Manni Burgsmüller in den 60er und 70er Jahren für den Verein spielte, pendelte Rot-Weiss Essen zwischen Bundes- und Regionalliga. Die große Zeit der 50er Jahre, als der Verein zum ersten und einzigen Mal innerhalb von zwei Jahren erst Pokalsieger und dann deutscher Meister wurde, war zwar vorbei, aber man hielt sich wacker. Ähnlich ging es der Stadt. Zwar hatten das Zechensterben und die Krise der Stahlindustrie schon begonnen, doch viele arbeiteten weiter in der Branche. Inzwischen hat die Stadt eine neue Leitidee entwickelt, sich als Kulturmetropole neu erfunden. Der Verein allerdings spielt vierte Liga – ohne dass ein Aufstieg in Sicht ist.

Manni Burgsmüller, der bei Rot-Weiss seine „Lehre“ gemacht hat, wie er sagt, kommt nur selten ins Georg-Melches-Stadion an der Hafenstraße. Stammgast ist er heute im Eiscafé La Gondola. Das liegt im Untergeschoss eines von Parkhäusern umringten grauen Betonkastens an der Autobahn A 40, einem der ersten Einkaufszentren im Pott überhaupt, das neben den vielen neueren Ausgaben ein wenig gestrig wirkt. Kellner servieren Eis und Waffeln, ältere Damen und Herren auf niedrigen Stühlen beugen sich mühevoll aber eifrig über Sahneberge in besonders hohen Gläsern.

Burgsmüller pirscht sich von hinten an, tippt seinem Gesprächspartner auf die Schulter und freut sich wie ein kleiner Junge über seinen Streich. Wie ein Junge sieht er auch aus, trotz seiner 60 Jahre, trotz des Krückstocks – Burgsmüller leidet an Arthrose, das komme vom Fußball, sagt er.

Burgsmüller ist einer der fast ganz Großen. Er hält einen guten Platz auf der Liste der ewigen Bundesligatorschützen, aber nicht den obersten. Seine Karriere hat er zu einer Zeit gemacht, als man im Fußball ganz gut, aber noch nicht astronomisch verdiente. Nach dem Ende seiner aktiven Zeit hat er deshalb alles Mögliche gemacht: American Football gespielt, Reebok vermarktet, eine Sportkollektion für die Europameisterschaft entworfen, eine Fernsehserie gedreht. In Essen erkennt ihn noch jeder in der Kneipe, verbindet ihn noch immer mit Rot-Weiss. „Die Frau an der Tankstelle hat neulich zu mir gesagt, Herr Burgsmüller, können Sie da nicht mal was machen?“ Da, beim Stadion. Und Manni wäre gern der Retter, auch, wenn er das nicht offen sagen würde. Er habe da eine Gruppe niederländischer Investoren an der Hand, sagt er, die sich interessieren würden.

Stefan Meutsch, erster Vorsitzender des Vereins, weiß von den Investoren noch nichts. Das halb abgerissene Stadion ist ohnehin nur eines von vielen Problemen. Auf den Banden rund um den Platz werben die Essener Sparkasse, das örtliche Cinemaxx und die Stadtwerke Essen, alles Regionalliga, große Sponsoren kommen nur dahin, wo auch Fernsehen ist. Im September 2009 hat der Verein Manager Thomas Strunz entlassen, der den Essenern kurzzeitig mit seinem Versprechen, den Verein in die Bundesliga zurückzubringen, große Hoffnungen gemacht hatte. Das dafür taugliche Wunschstadion soll 30 Millionen Euro kosten. Inzwischen hat der sozialdemokratische Bürgermeister, Reinhard Paß, das Stadion zugesagt. Einzige Bedingung: Der Verein muss den Klassenerhalt schaffen. Kritisch bleibt aber die Frage, ob RWE für die Regionalliga noch einmal eine Lizenz bekommt.

Über das alte Stadion sagt Stefan Meutsch: „Eine liebenswerte Ruine mit einer eigentümlichen, morbiden Ausstrahlung“. Überhaupt spricht Meutsch vom Verein mit melancholischem Pathos. Rot-Weiss, das sei eine „unerklärliche Liebesbeziehung“. Stefan Meutsch ist ein massiger Mann. Er trägt eine wollene Nadelstreifenhose zur Wildlederjacke, auf der Kommode in seinem Büro stehen Schokoladennikoläuse mit Rot-Weiss- Logo Spalier. Meutsch ist Geschäftsführer der VVA Kommunikation, die mit mehreren Standorten in Deutschland Fachzeitschriften verlegt und Internetauftritte konzipiert. Das Unternehmen residiert im Büropark Bredeney, einem großen Gebäudekomplex aus Beton, Glas und Blech, Eingang Nummer 39, da, wo Strukturwandel halbwegs funktioniert. Mitmieter ist eine IT-Firma.

Fährt Meutsch mit dem Auto durch die Stadt zum Stadion, geht es hinab im sozialen Gefälle. Vorbei an ein paar alten Villen. Vorbei am nagelneuen Chipperfield-Folkwangmuseum, das links von der Straße gläsern kühl auf die Kulturhauptstadttouristen wartet. Rundherum um die Innenstadt, wo gerade das Limbecker-Platz-Zentrum eröffnet hat, ein gigantischer Tempel, Erfüllungsgehilfe des Essener Stadtmottos: die Einkaufsstadt. Ab der Bottroper Straße beginnt das Niemandsland. Mauern mit Stacheldraht vor alten Industriebrachen, rechts geht es vorbei an einem Gewerbegebiet, links erheben sich hinter den offenen Toren einer Halle Berge von Plastikmüll, der hier sortiert wird. Bis vor einigen Jahren fand entlang dieses ungebrauchten Stücks Stadt jedes Wochenende ein als dubios verschrieener Gebrauchtwagenmarkt statt, in jüngerer Zeit eroberten Prostituierte und ihre Wohnwagen die Parkstreifen längs der Strecke. Das Georg-Melches-Stadion liegt mitten im Essener Norden, in einem alten Hafengebiet, zwischen Bahngleisen, die einmal große Industrieanlagen verbanden und die heute keiner mehr braucht.

An einem spielfreien Nachmittag im Dezember riecht das Treppenhaus der „liebenswerten Ruine“ nach Linoleum, altem Kuchen und Umkleidekabine. Die Tische der Gaststätte sind mit rot-weißen Wachstischtüchern gedeckt. Zwischen Topfpflanzen hindurch fällt der Blick durch die Fensterfront auf eine alte Eisenbahnbrücke aus Stahl. An einem Tisch sitzen die Stammgäste und trinken Kaffee, alle übrigen Tische sind leer. Günter Barchfeld trägt trotz der Wärme seine Jacke. Der 75-Jährige blinzelt im matten Licht und sagt: „An einem Neubau führt kein Weg mehr vorbei.“ Neu bauen, mit dem Alten abschließen, fertig, Ende.

Barchfeld gehört in der Vereinsgaststätte zum Inventar. Jahrzehntelang war er Zeugwart des Vereins, war in der Jugendarbeit aktiv und ist einer der wenigen, die noch von der goldenen Zeit des Vereins erzählen können, von den 50er Jahren. Viele der Spieler von damals sind tot.

Barchfeld hat sein Leben fein säuberlich aufgeteilt zwischen der Zeche und dem Verein. 40 Jahre lang hat er als Schachtsteiger gearbeitet, 40 Jahre unter Tage, davon 26 Jahre Nachtschicht. „Jeden Abend, wenn im ZDF die Uhr auf neun ging, Jacke anziehen, Abfahrt.“ Um sieben Uhr morgens war er wieder zu Hause, um Viertel vor drei dann auf dem Rot-Weiss-Platz. Barchfeld trägt seine Erinnerungen in der Brieftasche mit sich. Ein Bild zeigt ihn auf Mallorca, wo er mit den Spielern ins Trainingslager ging, ein bisschen teilhatte am Fußballglamour. Ein anderes zeigt ein geräumiges Wohnzimmer mit Schrankwand und Ledergarnitur. Das ist die Wohnung der Barchfelds im Mehrgenerationenhaus des Evonik-Konzerns, dem Ruhrkohle-Ableger. Die Zeche hat gut für ihn gesorgt.

Barchfeld war mit dabei, als RWE zum ersten und letzten Mal den Pokal gewann. Das war die Zeit von Helmut Rahn, dem „Boss“, dem Wundermann von Bern 1954. „Rahn schießt. Tor, Tor, Tor!“ Daran erinnern sich die Essener besonders gern, auch Barchfeld, der damals gerade mit der Gewerkschaftsjugend in der Schweiz war. Damals, vor dem Zechensterben und vor dem Niedergang der Stahlindustrie. Damals, als Essen und das Ruhrgebiet noch sie selbst sein konnten, bevor man auf die Suche nach neuen Identitäten ging.

Die Bronzefigur von Helmut Rahn im Georg-Melches-Stadion wurde während der Bauarbeiten demontiert. Doch Rahn wirkt in Rot-Weiss noch immer, vielleicht, weil er, als Bergarbeiter- und Kriegskind, als Fußballspieler und als einer, der noch mit dem Taubenschlag auf dem Dachboden aufwuchs, ebenso für das alte Ruhrgebiet steht wie der Verein.

Ohnehin wird in Essen eine Vereinszugehörigkeit vererbt. In seiner Familie, betont Lothar Dohr, gebe es keine Schalker. Nur sein Neffe sei jetzt einmal in die Arena gegangen. „Der weiß noch nicht, was er tut“, sagt Dohr.

Lothar Dohr kommt dem sehr nahe, was sich der Rest von Deutschland unter einem Ruhrgebietsoriginal vorstellt. Der Vorsitzende des Ersten Rot-Weiss-Fanclubs Essen und Fanbeauftragte ist auf ruppige Art herzlich. Über seinen gemütlichen Bauch spannt sich das Trikot, an einer Kette trägt er das RWE-Emblem in einem goldenen Strahlenkranz um den Hals. Dohr war früher hauptamtlich beschäftigt, inzwischen hat er nur noch einen 400-Euro-Job.

Als er das erste Mal mit seinem Vater im Stadion gewesen ist, war Dohr elf Jahre alt, das war 1970. „Die Faszination von damals erleben die jungen Fans heute nicht mehr so“, sagt er. Das könnte anders werden, würde der Verein unter besseren Bedingungen spielen. Immer noch kommen zu Heimspielen im Schnitt 7000 Fans ins Stadion – in der Regionalliga eine Besonderheit.

Das letzte Heimspiel schaut sich der Fanbeauftragte mit über den Kopf gezogener roter Kapuze von der Tribüne aus an. Es geht ziemlich lahm los. Viele Pässe gehen ins Leere, das dichte Schneegestöber macht die Sache nicht besser. Die Stimmung im Stadion ist trotzdem gut. Bis kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit spielen die Essener souverän, wenn auch torlos. Erst der letzte Angriff vor der Pause bringt den Siegtreffer. Die Rot-Weißen retten sich auf den siebten Tabellenplatz. Im neuen Jahr, bevor es um die Lizenz für den Viertligisten geht, wird in Essen erst mal Kulturhauptstadt gefeiert. „Das Problem ist“, sagt Lothar Dohr, „dass die Kultur hier vorgezogen wird. Da wird Geld reingepumpt ohne Ende. Wobei wir ja keine Stadt dafür sind. Wir sind doch eine Kohlestadt.“

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