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Immer wieder sonntags. Zeichnung von George Widener aus der Pariser abcd-Sammlung.

© George Widener

Kunst: Die rote Zwei

Der US-Maler George Widener berechnet im Hamburger Bahnhof die Welt. Mit der vierten Ausgabe "Secret Universe" beschließt das Berliner Museum für Gegenwartskunst seine Ausstellungsreihe, die Einzelpositionen abseits der „gängigen Labels des Kunstbetriebs“ ein Forum gegeben hat

Zahlen geben Halt, wenn das Leben wenig Sicherheit bietet. Auf mathematische Ordnung ist Verlass. Mögen andere seine Zahlenkolonnen als bedrohlich empfinden: Für George Widener sind sie ein präzises Instrument, um die Ereignisse in der Welt zu berechnen und ihnen damit einen Sinn zu unterstellen. Etwa dem Untergang der Titanic vor 101 Jahren. An Bord befand sich auch George Dunton Widener, der Urgroßonkel des amerikanischen Künstlers. Auf seinen Gemälden, die im Hamburger Bahnhof im Rahmen der Ausstellungsreihe „Secret Universe“ zu sehen sind, wird immer wieder die Zahl der Passagiere mit der Menge des Proviants an Bord und der Leistung der Schiffsmaschinen verglichen. Ob am Ende dieser Kette der Untergang des Dampfers steht, lässt sich den arbeitsintensiven Bildern nicht entnehmen. Trotzdem entwerfen sie ein vielschichtiges Panorama von Kausalitäten.

Vielleicht begann genau hier das Unglück der weitverzweigten Familie, das den 1962 geborenen Maler schon als Kind ohne Vater zurückließ. Er blieb bei der psychisch instabilen Mutter, auf die der Junge selten zählen konnte. Widener zog sich zurück, galt als schwierig und unberechenbar – und verblüffte zugleich mit seinen mathematisch-technischen Gaben. Sein Wettstreit mit einem Computer 2004 endete mit dessen Niederlage: Widener wusste zuerst, auf welchen Wochentag der 25. Juni im Jahr 47253 fallen wird. Da hatte man bereits das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Eine mildere Form von Autismus, die den Künstler dennoch verkapselt. Sein Werk ist hermetisch und folgt inneren Gesetzen, die nur Widener kennt: Er stapelt Rechtecke zu visionären Wohnprojekten und schreibt die Daten sonntäglicher Flugzeugabstürze in das Gemälde „Sunday’s Crash“, auf dass sie sich zu einer offensichtlichen Gesetzmäßigkeit verdichten.

Damit fügt sich sein Werk, das längst in Galerien und Museen kursiert, wie von selbst in die Ausstellungsreihe „Secret Universe“, die mit Wideners Einzelschau nun vorläufig endet.

Nach den Polaroids von Horst Ademeit oder den Puppen von Morton Bartlett gewinnt der Besucher vor allem eine Erkenntnis: Der traditionelle Begriff der „Outsider“-Kunst fasst kaum die Vielfalt dieser zutiefst subjektiven Ausdrucksformen, die oft erst spät als Kunst erkannt werden. Passender erscheint die Charakterisierung von Claudia Dichter und Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann als Kuratoren. Sie sprechen von Einzelpositionen abseits der „gängigen Labels des Kunstbetriebs“. Und von den Chancen, die Künstler wie George Widener eröffnen: Sie ermöglichen sogenannten Normalbegabten einen „Zugang zu Wahrnehmungswelten“, die ihnen sonst verschlossen blieben.

Höchste Zeit, den eigenen Sprachgebrauch zu prüfen. Outsider, solch ein Begriff hält die Schranke zwischen der Normalität und dem Anderen hoch – und grenzt Letzteres aus. Versagen solche Kategorien, herrscht Unsicherheit. Das gilt für den Betrachter wie den Künstler, der sich zur Selbst-Orientierung ein System aus Zahlen baut. Die Ausstellung demonstriert dies eindrucksvoll. Spürbar wie ein Korsett wird dieser Schutz in der Arbeit „Birthday map (Weekends)“ von 2012, auf der eine geometrische Figur fast in der Form eines Sportstadions den chaotischen Umraum abwehrt. Ein seltsam in sich kreisendes Motiv – und ein faszinierender Blick in die offenbar lebenswichtigen Eigenschaften von Kalendern, historischen Daten und Statistiken.

Widener hat sich ein mathematisches Universum auf den eigenen Leib geschneidert. Sein Geburtsdatum schreibt er auf das Blatt „I was born“ (2012), einer Leihgabe der privaten Berliner „About Change Collection“, lang wie ein Gedicht und eindringlich wie die Wortkunst der amerikanischen Konzeptkünstlerin Barbara Kruger. Verblüffende Details wie die rhythmische Wiederkehr der Zahl Zwei werden in Rot markiert und zum gestalterischen Element – ohne dass die unterschwellige Botschaft verloren ginge.

So viel Magisches scheint sich darin abzubilden, dass auch die Krümmungen in Wideners Biografie einen Sinn bekommen: seine schwierige Kindheit, das temporäre Leben auf der Straße, schließlich die enthusiastische Vereinnahmung durch die Kunstszene. Dabei mag es dem Maler mit gleicher Dringlichkeit darum gehen, die allgemeinen Vorstellungen von Andersartigkeit aufzuheben. „Ich brauche keine zweite Meinung“, hat er im unteren Drittel des Blattes „I was born“ notiert. „Aber ich hätte nichts gegen eine zweite Chance.“ Widener nutzt sie im vierten Teil der Reihe „Secret Universe“ – und es ist wirklich schade, dass vorerst niemand mehr diese Möglichkeit bekommt.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50/51, bis 16.6., Di/Mi/Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr

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