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Kultur: Kunst in den Zeiten des Schreckens

Nach dem großen Beben versucht man sich an zweifelhaften WohltatenSabine Vogel Ein Clown liegt schlafend auf dem Meeresgrund. Neben ihm versinken ganze Häuser, Ruinenberge, die ins Meer geschoben werden.

Nach dem großen Beben versucht man sich an zweifelhaften WohltatenSabine Vogel

Ein Clown liegt schlafend auf dem Meeresgrund. Neben ihm versinken ganze Häuser, Ruinenberge, die ins Meer geschoben werden. 30 000 Menschen werden vermisst. Ob der Clown sie wieder zum Lachen bringen will? Der unschuldige Zirkusclown von Ugo Rondino ziert das Plakat der 6. Biennale von Istanbul. Das triviale Bilderbuchimage sollte die Beschaulichkeit und Weltferne einer zu erträumenden künstlichen Wirklichkeit symbolisieren und wirkt nun angesichts des realen Alptraums ziemlich befremdlich, wenn nicht peinlich. Dabei hätte alles so hübsch werden können. Das Konzept des Kurators Paulo Colombo war trendgerecht anti-konzeptionell, anti-theoretisch und mit einem mutigen Bekenntnis zum Kitsch supersentimental. Lieber mysteriös als diskursiv, eher pompös verführerisch als intellektuell-utopisch, alles sowieso "mehr als poetisch". Aus Überdruss an Installationen und Cyberblabla-Multimedia feierte das Bild als einfaches Medium der Selbstanalyse, Katharsis und anderer tieferer Gefühle ein erfrischendes Comeback. Es gab die ironisch-viktorianischen Scherenschnitte von Kara Walker über Meuchelmord, Totschlag und Sklaverei als Fries in Lebensgröße und jede Menge Fotoserien und Filme mit dem Charme der Wackelschwenks und der Hobbykamera. Abgesehen von der kleinen Gewaltgeschichte Walkers herrschte freilich eine bis zum Brechreiz süße "delikate, subtile, neurotische, sensible, erotische, epische und formal elegante" Passion der Detailbesessenheit und eurozentrischer Ichbezogenheit, wobei die japanischen Variationen die künstlerischen Egomanie als exemplarisch Erzählung nur in exotischen Farben unterstrichen. Man dürstete nach Salz und Essig. Aber dafür gibt es die Wirklichkeit. Der gegrillte Fisch an der Galatabrücke, das Elend, die Armut der Flüchtlinge überall auf den Straßen der Stadt am Goldenen Horn.

Für vier Wochen, gezählt ab dem 17. August 1999, an dem ein Erdbeben die Gegend um das Marmara Meer erschütterte und geschätzte 400 000 Tote hinterließ und mindestens eine dreiviertel Millionen Menschen obdachlos machte, wurden alle Unterhaltungsveranstaltungen in der Türkei offiziell abgesagt. Die Biennale findet statt - noch bis Sonntag. Kunst, das ist die gute Nachricht, gilt nicht mehr als Unterhaltung. Aber was ist sie dann? Das Thema der diesjährigen, nunmehr sechsten Kunstbiennale von Istanbul, heißt "Dalga". Ein Wort aus dem Schlagerschatz der Metropole Istanbuls aus den 20ern, übersetzt etwa "Die Leidenschaft und die Welle". Dalga steht auch für Dagga, die Droge des Orients, das Berauschtsein, ein Schnulzenbegriff. Es geht kurzum um Gefühle. Um die großen und kleinen. Um Identität und Geschichte, Tradition und Moderne. Es geht um die Narration, um die künstlerische Interpretation und Zurückeroberung der Erzählung, im Zentrum steht das Biografische und das Private.

Interessiert das jemanden? Das ist egal. Aber was tun? Die Künstler stiften Werke, die zugunsten der Erdbebenopfer versteigert werden. In der Irenenkirche, eine der ältesten Bauwerke der Welt, findet eine Auktion statt. 225 000 Dollar werden durch die gespendeten Kunstwerke erwirtschaftet. Alle sind stolz und zufrieden. Junge Schönheiten haben gerade die Portokasse ihrer Väter publiciywirksam verjubelt. Man zerstreut sich in den diversen Nachtclubs der Stadt. Dort tanzen kurdische Prostituierte für ihre Onkels und in den Jazzkellern macht man Witze über das Überlebensköfferchen, in dem neben Papieren, Aktien und Taschenlampe auch das Ticket weg von hier sein muss. Manche Leute übernachten im Freien, die meisten anderen jedoch geben ihr Geld aus. Wer weiß, was morgen ist.

Gölcük liegt nicht so weit von hier, eine gute Stunde mit dem Schnellboot, eine weitere mit dem Bus. In Gölcük war noch nicht mal das Epizentrum. Trotzdem steht von Gölcük, einem Städtchen von knapp 170 000 Einwohnern, nichts mehr aufeinander, außer der Polizeistation und den Armeebaracken. Balkone des zweiten Stocks sind einfach auf die des ersten Stocks gesackt. Couchgarnitouren klemmen pittoresk zwischen zusammengestauchten Häusern. Im sonnigen Herbstwetter stinkt es nicht mehr nach Fäulnis und Verwesung, es staubt nur noch. Bulldozer und Lastwagen karren den Schutt der Häuser ins Meer, irrblickende Kinder oder moslemisch verhüllte Schwestern huschen mit Mundschutz durch die Ruinen. Über der Geisterstadt weht der reinigende Wind aus der Wüste. Die wenigen Leute, die noch in Gölcük verblieben sind, umarmen uns, weil wir überhaupt da sind und unsere perversen Katastrophenfotos machen, weil wir sie anschauen und ihnen somit einen Hauch Erinnerung und Existenz vorgaukeln. Längst ist das Interesse der Medien zu anderen spektakulären Orten des Schreckens weitergewandert.

In Gölcük, Ismit und Yalova werden die Spuren noch Jahre verbleiben. Wenn es diese Orte überhaupt je wieder geben wird. Wenn man die Fabrikationsgebäude oder die neue Shoppingmall, das Polizeigebäude und die Militäranlagen so unversehrt neben den todbringenden Trümmern der Wohnhäuser sieht, glaubt man nicht mehr an die Apokalypse der Naturkatastrophe. Nun heben die Töchter der Bauspekulanten, die diese Appartmenthäuser aus salzigem Meersand und billigem Mörtel errichten ließen und jetzt an ihrem Abriss und Wiederaufbau profitieren werden, ihr manikürtes Händchen, um ein paar Tausend Dollar zu stiften. Ebenso anzuklagen sind Künstler, die irgendeinen Scheiß stiften und damit in die Reihe der höchst zweifelhaften Wohltäter eintreten. Solche theatralisch sentimentale Betroffenheit musste scheitern gegenüber dem wahrhaften Beben der Erde, dem Tod, der Verwüstung, dem Gestank der Korruption. Die großen Gefühle der Entfremdung, die biografischen Privatdramen, die egomanischen Tagebuchkritzeleien, das spätpubertäre Pathos des privilegiert Scheiternden werden angesichts der banalen Realität von hunderttausenden Zeltbewohnern an den Ufern des Marmarameeres belanglos. So wird die a priori apolitisch konzipierte, auf private Obsessionen und Narrationen vertrauende Kunst plötzlich wieder in einem politisch-sozialen Kontext vereinnahmt. Eine gesellschaftliche Funktion! Opium fürs Volk? Her damit!

Doch die Menschen brauchen Zelte, Unterkünfte, neue Städte und dann neue Herrscher. Das Drama des Erwachsenwerdens als ästhetisches Experiment ist ein obszöner Luxus saturierter Gesellschaften. "Shakespeare aus dem Gedächtnis nacherzählt", heißt eine der nettesten Arbeiten der Biennale: Emma Kay tippt auf weißen Blättern eben das ab, "Wie es Euch gefällt", ein leeres Blatt Papier im Holzrahmen. Nett aber reicht nicht, es reichte nie, erst recht nicht hier und heute. © 1999

Sabine Vogel

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