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Kunstfestival: Letzte Ausfahrt Atlantis

Verlorene Welten von zehn Künstlern: Das Sommerfestival Rohkunstbau geht auf Schloss Marquardt in eine neue Runde. Der Ort ist neu, sonst ist zum 16.Mal alles wie immer.

Ein See ist Pflicht. Still und schön und blau und weit. Und eine Terrasse natürlich, um von dort über den See zu blicken, und über den Park und die Pappeln und Wolken. Ein Türmchen am Haus passt auch dazu, kupfergedeckt, und im Innern dann vergilbte Tapeten und nachgedunkelte Holztäfelungen, knarrendes Parkett und die eine oder andere blinde Tür. So war’s in Groß Leuthen, dem Wasserschloss im Spreewald, wo vor 15 Jahren das Kunstfestival Rohkunstbau seinen Anfang nahm. So ist es jetzt wieder, in Schloss Marquardt am Schlänitzsee.

Angekommen. Heimgekommen. Man hätte fast nicht mehr geglaubt, dass das nach dem Auszug aus dem verwunschenen Groß Leuthen ins Trudeln gekommene Sommerkunstfestival sich noch einmal erholt. Doch nun, zum 16. Mal, ist alles wie immer. Bratwürste auf der Terrasse, Kunstvolk mit Kind und Kegel beim Picknick im Park, und eine Liste von zehn Gegenwartskünstlern, die sich inspirieren lassen von Ort und Geschichte. Der Geist des Hauses – er ist offenbar ein guter.

An den neuen Standort hatte man zunächst nicht die besten Erwartungen

Das war nicht so, vor einem Jahr im Interimsquartier der Villa Kellermann in Potsdam, und auch nicht 2007 in Schloss Sacrow an der Havel. Auch an Marquardt hat man zunächst nicht unbedingt die besten Erwartungen, denkt an Pressemeldungen von vor zwei Jahren, als eine Hochzeitsfeier hier brutal von Neonazis aufgemischt wurde – der Dorfbewohner, der dort mit verschränkten Armen am Ortseingang steht, blickt er nicht feindselig auf die Berliner Autokolonne? Auch frühere Geschichten des Hauses sorgen für Grusel: Rosenkreuzersitzungen, die Schlossherr Johann Rudolf von Bischoffwerder, ein Günstling Friedrich Wilhelms II., hier abhalten ließ, eine Schlossbewohnerin, die Selbstmord beging und seitdem durchs Haus spukt, später dann die Umwandlung in ein Hotel, das seit 1932 von Kempinski betrieben wurde. Nach deren Enteignung durch die Nationalsozialisten diente das Haus zunächst als Reservelazarett, wurde dann von der Roten Armee besetzt, war zu DDR-Zeiten Flüchtlingsquartier, Kindererholungsheim und Gehörlosenschule, bis die Humboldt-Universität hier bis 1993 ihr Institut für Obstbau und Obstzüchtung betrieb. Heute kann man Teile des Hauses als Filmkulisse oder Hochzeitsort mieten.

Viel Stoff für Tiefenbohrungen in die Vergangenheit, wie sie das Festival gern unternimmt. Ist doch Konzept der 1994 von dem damals 20-jährigen Brandenburger Medizinstudenten Arvid Boellert gegründeten Unternehmung, dass Künstler sich vor Ort mit der Geschichte des Hauses auseinandersetzen. Der diesjährige Obertitel „Atlantis“, jener versunkene Inselstaat, der seit Platon immer wieder Stoff für Diskussionen um die beste Staatsform wie auch für fantastische Schilderungen und Spekulationen bot, öffnet den Assoziationsraum vor allem zurück in die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die DDR als Atlantis, die untergegangenen sozialistischen Staaten als bessere, allerdings durch Zwang aufrechterhaltene Staatsform, die westliche Demokratie, die sich gerade im Umgang mit der Finanzkrise diskreditiert – all das schwingt mit, in den malerisch verwunschenen Welten von Schloss Marquardt. Nicht umsonst hat der Tscheche Robert Barta hier eine Klanginstallation geschaffen, indem hinter einer Tür immer wieder verzweifelte Schläge und Rufe eines Eingeschlossenen zu hören sind: Der Ausweg aus dem Labyrinth der Geschichte und der Erinnerung, er ist nicht immer leicht zu finden. Holt mich hier raus!

Dieses Jahr sind viele Videoarbeiten zu sehen

Schärfe und Bitterkeit spricht dabei vor allem aus den osteuropäischen Beiträgen – ein Schwerpunkt, seit Rohkunstbau in diesem Jahr ein europäisches Netzwerk von Ländern mitinitiierte, die an den „Eisernen Vorhang“ grenzten. So wandelt der Litauer Deimantes Narkevicius sehr effektvoll auf Spuren von Stanislaw Lem und Andrej Tarkowski, wenn er in einem Video Donatas Banionis, den Hauptdarsteller aus „Solaris“, vierzig Jahre später noch einmal in die Rolle des Kris Kelvin schlüpfen lässt und ihn durch einen sozialistischen Kulturbau schickt. Diese Reise kombiniert er mit Aufnahmen des litauischen Alleskünstlers Mikalojus Ciurlionis, der 1905 an der Schwarzmeerküste Fotoaufnahmen machte – an der Stelle, wo auch Tarkowski später die Meeresoberfläche für „Solaris“ filmte.

Auffallend viele Videoarbeiten sind dieses Jahr zu sehen: Ist der Film doch das genuine Mittel für visuelle Reisen in die Vergangenheit. So lässt die Berlinerin Lisa Junghanß eine verwirrte Frau im Nachthemd durch das Schloss wandern, bis sie sich an einem Baum aufhängt. Und die Polin Katarzyna Kozyra schickt fünf Zwerginnen in Dirndl und Zopffrisur in einen malerischen Märchengarten, doch die Idylle endet in Mord und Totschlag.

Der originellste Beitrag stammt vom jüngsten Künstler

Überschneidungen, Parallelen, Zufälle: Sabine Hornig, die das Bild eines Bergs von Computerschrott als malerischen Vorhang in ein Zimmer wehen lässt, fand diesen neuzeitlichen Müllberg just in der Bucht, wo laut Platon Metropolis verschwunden ist. Und Sejla Kameric aus Bosnien-Herzegowina spiegelt die traumatischen Erinnerungen an den Krieg der Neunziger in ihren stillen Fotografien von schneebedeckten Seen, toten Bäumen und einer Säule mit dem verwischten Graffito „Ban the bomb“.

Die stärksten Arbeiten jedoch sind die skulpturalen, die sich besonders auf den Ort eingelassen haben. Zwei Säulen markieren den Beginn und das Ende der Ausstellung in den beiden Treppenhäusern, wie die Säulen des Herkules, die man durchfahren musste, um nach Atlantis zu kommen: Thomas Scheibitz hat im Entree eine wacklige Doppelsäule errichtet, und Gregor Hildebrandt steuert neben einem Klangteppich, der aus schwarzen Kassettenbändern geknüpft ist, eine Säule aus gepressten Schallplatten bei. Martin Assig baut Miniaturmodelle von Häusern, Türmen, Mausoleen und begleitet sie mit Spruchtafeln wie: „Ist danach wie davor?“. Doch der originellste Beitrag stammt vom jüngsten Künstler, dem 1979 geborenen Dennis Feddersen. Er hat eine Raupe aus schwarzer Plastikplane geschaffen, die durch Türen und Fenster quillt, sich im Flur zu einer amorphen Masse ballt und gleichzeitig Stühle und Tische verschlingt. Müll und Schrott, und ein Wesen, das sich immer wieder neu generiert: So funktioniert Erinnerung, so funktioniert Kunst. Auch in Marquardt.

16. Rohkunstbau, Schloss Marquardt, bis 13. Sept., Do und Fr 14 bis 19 Uhr, Sa und So 12 bis 19 Uhr. Katalog 18,95 Euro, Infos unter www.rohkunstbau.de.

Christina Tilmann

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