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Kunstkritik: Papa näht dir eine neue Bluse

Die merkwürdigen Puppen des Morton Bartlett im Hamburger Bahnhof.

Bei Morton Bartlett hat man ein seltsames Gefühl: Ein Mann, der zu Hause mit Gips und Ton experimentiert und anschließend Kindergestalten zusammensetzt. Vorwiegend Mädchen an der Schwelle zur Pubertät. Kindfrauen, Lolitas in Baby Dolls oder hochgeschlossenen Blusen – die Bartlett ebenfalls selber nähte. Dass hier einer unzufrieden mit dem klassischen Spielzeug war und Alternativen schuf, glaubt man keinen Moment. Eher an Substitute und Ersatz.

Bartlett, ausgebildeter Werbefotograf, lebte allein in Boston. Als er 1992 mit 83 Jahren starb, entdeckte man im Nachlass fünfzehn Kisten mit jenen Puppen, von denen einige Modelle nun im Hamburger Bahnhof zu sehen sind. Andere Vitrinen zeigen passende Kleider: Faltenröcke, Blusen oder Kostümjäckchen, mit einfacher Zackenlitze verziert und dennoch das Ergebnis größter handwerklicher Sorgfalt. Genau wie die Figurinen, die von einer Sammlung aus kleinen Ohren, Köpfen in verschiedenen Stadien ihrer Herstellung, von zarten Händen und schmalen Füßen ergänzt werden.

Die Ausstellung firmiert als dritter Teil der Reihe „Secret Universe“. Sie stellt Künstler vor, die sich keiner Strömung zuordnen lassen und ihre autonome Sprache oft als Autodidakten entwickelten. Mit den halblebensgroßen Figuren und jenen schwarz-weißen Kleinformaten, auf denen Bartlett seine leblosen Mitbewohner meisterlich in Szene setzte, schlagen Claudia Dichter und Udo Kittelmann als Kuratoren und die About-Change-Stiftung als Finanzier nun das dritte Kapitel ihrer Geschichte über die sogenannten Outsider auf.

Die Inszenierung in dunklen Räumen mit Spotlights wirkt so unheimlich wie feierlich. Gleichzeitig stellt man sich das Atelier von Bartlett vor. Abstrakt, aber sehr atmosphärisch. Was das gedämpfte Licht allerdings nicht verhehlen kann: Die Puppen wirken starr, ohne Wärme oder gar jene erotische Attitüde, wie sie die Fotografien immer wieder ausstrahlen. Leben hat ihnen ihr Schöpfer offenbar erst mit der Kamera eingehaucht. Im raffinierten Spiel der Lampen, die Körperteile verschatten und eine Mimik zaubern, das in der Realität nicht zu finden ist.

Ein rothaariges Wesen in kurzem Rock und engem Pullover, unter dem sich winzige Brüste abzeichnen. Geschwister lesend im Bett, ein weinendes Baby im Kinderbett oder ein lachender Junge mit Strickmütze auf einem viel zu großen Stuhl: Bartletts Repertoire ist groß, und nicht wenige seiner Modelle strahlen kindliche Unschuld aus. Dennoch begegnet man immer wieder jenen kecken Mädchen, die extrem kurze Röcke tragen, die Beine leicht spreizen oder posen, wie man es – aber auch dann nur klischiert – mit weiblichen Erwachsenen in Zusammenhang bringt.

Bartletts Kreationen sind missfits, und vielleicht sorgt gerade diese Erkenntnis für latentes Unbehagen. Seine Modelle sind so montiert, dass er sie jederzeit auseinander nehmen und neu arrangieren konnte. Am ehesten sind seine Aufnahmen mit denen von Cindy Sherman zu vergleichen, in denen die Künstlerin immer wieder neue Rollenbilder aufgreift und in Selbstporträts offenlegt. Manche der Puppenbilder ähneln ihren artifiziellen Kostümierungen frappierend. Doch im Gegensatz zu Shermans feministisch fundierten Strategien schafft sich Bartletts ein Universum, in dem er nach subjektivem Empfinden regiert.

So versammelt er mit seinen Puppen nicht nur eine Ersatzfamilie, sondern verfügt zugleich auch über alle Mitglieder: Der moderne Pygmalion bestimmt, was sie anziehen, wie alt die Mädchen werden dürfen, wie sie aussehen. Einsamkeit und Dominanz, was für eine bedrohliche Mischung. „Unschuld und Gefahr“ hat es John Zorn genannt. Vor exakt zehn Jahren drehte der amerikanische Avantgarde-Musiker einen Film über Bartlett, den man hier ebenfalls anschauen kann.

Bartlett vermachte sein nicht unerhebliches Erbe einer Stiftung, die sich um Waisenkinder kümmerte – wie er selbst eines war. Der Katalog wiederum zeichnet nicht nur seine Arbeitsweise minutiös nach, sondern ist auch der Beziehung zu echten Kindern auf der Spur. Der Künstler hat sie fotografiert, stets mit Erlaubnis der Eltern und in unverfänglichen Momenten. Als ihm ein befreundetes Ehepaar erlaubte, regelmäßig Aufnahmen vom heranwachsenden Kind zu machen, packte Bartlett seine Puppen 1962 nach drei Jahrzehnten intensiver Beschäftigung in Kisten und rührte sie nie wieder an.

bis 23. September, Di - Fr 10 -18 Uhr, Sa 11 - 20 Uhr, So 11 - 18 Uhr.

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