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Kunstszene in China: Tagträumer und Neinsager

Ai Weiwei ist Chinas bekanntester Dissident. Aber die vitale Kunstszene in Peking ist viel größer – und fast zwangsläufig politisch. Eine Rundreise durch die Ateliers der Hauptstadt.

Peking im Spätsommer. Das im Nordosten herausgeputzte Quartier 798, einst ein im Bauhausstil errichtetes Militärfabrikgelände, wird heute von Künstlern bevölkert. Einst kamen sie wegen der preiswerten Mieten hierher, fanden Platz und Ruhe zum Arbeiten. Mittlerweile verwandelt sich der Distrikt an Feiertagen in ein überlaufenes Freizeitparadies: Bars, Cafés und Restaurants finden sich hier neben Boutiquen, Handwerksläden, Galerien und dem ersten privaten Museum der Stadt, kurz UCCA genannt.

Die meisten Künstler, die hier einst ein Studio hatten, sind längst nicht mehr da. Allzu häufig platzten Neugierige herein, alles verteuerte sich, der schöne Traum von der bezahlbaren Abgeschiedenheit in der vom Smog geplagten Metropole war schnell ausgeträumt. Was früher einmal ein inoffizieller, von der Regierung ungeliebter Ort war, zeugt heute vom Geist der Kommerzialisierung. Und davon, wie hier eine Kulturindustrie unter strenger Aufsicht einer Partei vorangetrieben wird, die alles vereinnahmen will, was zu kritisch ist. Auch deshalb leben viele Künstler aus der Anfangszeit des Quartiers 798 inzwischen in neu erschlossenen Stadtrandbezirken oder im außerhalb Pekings gelegenen ehemaligen Bauerndorf Songzhuang. Ein weiteres Refugium ist der Chaoyang Distrikt, wo Ai Weiwei sein FAKE-Studio unterhält und ein Ensemble aus selbstentworfenen, teuren Ateliers vermietet. Wer sie sich nicht leisten kann, mietet leere Scheunen in der Nähe.

Etwas versteckt in einem Hinterhof am Rand von Quartier 798: eine zum Atelier umgewandelte Werkstatthalle. Von massenhafter Schaulust blieb sie bisher verschont. Ein Sofa, ein Tisch, an den Wänden lehnen die ersten Gemälde einer Bildserie der Künstlerin Yu Hong, die Ende des Jahres eine Ausstellung in der Long March Space Gallery haben wird. Die linke Seite des Triptychons zeigt einen jungen Mann, Mitte 30, weißes T-Shirt, khakifarbene Hose. Er liegt auf dem Bett, hat die Hände gefaltet und schaut zum tiefblauen Nachthimmel empor. Trip eines Tagträumers: Über ihm schweben zum Greifen nahe Äste volle Blätter, darüber lockende, wie Sterne funkelnden Zauberpilze. Ob sich der Liegende – noch dazu mit einer riesigen Schlange hinter dem Kopf – in einem geschlossenen Raum aufhält oder in freier Natur, ist nicht auszumachen.

Die Kunstszene im heutigen China lässt sich nicht auf Stile reduzieren

Yu, 1966 in Peking geboren, studierte in den 80er Jahren Malerei an der Zentralen Hochschule für Bildende Kunst (CAFA), der renommiertesten Akademie des Landes neben Hangzhou. Der junge Mann auf Yus Porträt wohnt im wirklichen Leben als Sänger in Schanghai, dort hat ihn Yu aufgesucht. Ihr geht es um ein tiefes, existentielles Verständnis der Menschen, denen sie begegnet. Auslöser für ihre jüngste Bildserie war das wunschlose Unglück einer selbstmordgefährdeten Jugendfreundin.

Yus Werk ist nur ein prominentes Beispiel für die Vielfalt und Vitalität der Kunstszene im heutigen China, die sich nicht auf Stile reduzieren lässt. Verglichen mit Schanghai ist Peking anarchischer und experimenteller, dort umfasst die Szene so gut wie alles: Malerei, Fotografie, Performance, Video, Action- und Computerkunst. Alte und neue Medien ergänzen einander. Wer malt, arbeitet auch mit Video, die Übergänge sind fließend. So ist Feng Mengbo, kürzlich im Karlsruher ZKM gefeierter Pionier der Videogamekunst und selbst Lehrer am CAFA, nach Jahren wieder zur Malerei zurückgekehrt. Seine Werke fächern sich auf: von Bildern, die den sozialistischen Realismus auf unideologische Weise weitertreiben, die gegen die Heroisierung des Kollektiven die Freiheit des Einzelnen setzen, bis zu konzeptuellen und abstrakten Ausdrucksformen.

Mit der Unterscheidung zwischen Staats- und Undergroundkünstler kommt man nicht weit. Unterrichten an den Akademien doch auch jene, die ihren Idealen treu geblieben sind, wenn auch vom Tiananmen-Massaker 1989 traumatisiert. Der 1953 in Schanghai geborene Maler, Professor und Publizist Chen Dan Qing war damals in New York, er verteidigt die Aufbruchszeit. In seiner Kunst stellt er das Leben der Tibetaner und nachträglich auch die blutigen Ereignisse vom Platz des Himmlischen Friedens realistisch dar. Malend versetzt er sich in die verheerenden Wirren hinein, gewahrt die Panik, die Panzer, Verwundeten, Toten. Das Entsetzen. In China ist schon verdächtig, wer die Flagge der Subjektivität hisst. Chen Dan Qing ist für die Kritischen in der jungen Generation deshalb eine Art Vorbild. Kein Held des Widerstands, aber ein Unangepasster und Neinsager – auf andere Weise als Ai Weiwei, der Künstlerkollegen interviewt, sie unterstützt, von ihnen akzeptiert und respektiert wird.

Künstler müssen in diesem Land immer auch gute Strategen sein

Wobei Chinas berühmtester Dissident, der auf der aktuellen Biennale in Venedig auf Einladung des Deutschen Pavillons ein Rhizom aus antiken Holzstühlen zeigt, beileibe nicht als Einziger die Menschenrechte verteidigt. So ließ sich He Yunchang, einer der provokantesten und extremsten Performancekünstler, 2012 im Kreis von 100 nackten Frauen fotografieren, deren Scham lediglich mit dem Konterfei von Ai Weiwei bedeckt war. Auf diese Weise solidarisierte er sich mit dem gerade Inhaftierten. Außerdem postet er auf Sina Weibo, der chinesischen Variante von Twitter.

Ebenso anarchisch wie politisch geht das Biennale-erfahrene Künstlerpaar Sun Yuan und Peng Yu vor. Deren Studio befindet sich im Herzen des Quartiers 798. Ihre Themen: Tod, Sterben, das Außergesetzliche. In einem für Zuschauer unzugänglichen Raum einer Galerie in der Ukraine, wo der private Besitz von Waffen verboten ist, ließen sie Männer mit verbundenen Augen Gewehre auseinandernehmen und neu zusammensetzen. So wurde das Illegale im Namen der Kunst legalisiert.

Zurück ins Atelier von Yu Hong. Von hier führt eine Tür zur etwa gleichgroßen Halle ihres Mannes Liu Xiaodong, sie kennen sich seit ihrem Studium an der Akademie. Xiaodong, Jahrgang 1963, gehörte in den 90er Jahren zur unabhängigen Filmbewegung Chinas. Als Protagonist des „konkreten Realismus“ schuf er 2003 die politische Bildserie „Die Große Umsiedlung am Drei-Schluchten-Staudamm“, heute ist er einer der teuersten und interessantesten Maler von internationalem Renommee.

An den Wänden der Atelierhalle finden sich Bilder seines aktuellen Hotan-Projekts. Einen Monat fuhr der Künstler durch die Region Xinjiang in der Nähe von Pakistan, wo vorwiegend Muslime leben. Der Fahrer, ein Uigure, macht ihn mit den Bewohnern eines Dorfs am Fuß des Bergs Kunlun bekannt. Sechs von ihnen begleitete er in ihrem Arbeitsalltag als Minenarbeiter und malte sie vor Ort, trotz Sandstürmen und brennender Hitze. Xiaodong hält ihre Körpersprache fest, ihre ausdruckstarken Gesichter. Authentische Bilder in steiniger Weite.

Während Xiaodong sich reisend auf die Suche nach der verlorenen Ursprünglichkeit begibt, geht der 1975 in der Shandong-Provinz geborene Guan Yong konzeptuell vor. In seinem neuen, erst vor wenigen Monaten nach Plänen von Ai Weiwei entstandenen Atelier in Songzhuang fallen dem Besucher Gemälde von prallgefüllten Bücherregalen ins Auge. Bücher, deren Titel und Formen sich deutlich unterscheiden. Ein anderes Bild mit fünf Männern in Anzügen, die vor einem Gemälde verharren, ist noch unvollendet. Weitere fünf Männer scheinen vom Bildrand her auf die Gruppe vor dem Bild zu schauen, von der sie wiederum angeblickt werden. Für Guan symbolisiert das Buch die Beziehung des Menschen zur Welt, eine Beziehung, der die Distanz innewohnt – und der Zweifel an der eigenen Wahrnehmung.

Der 1968 im Nordosten von China geborene Maler Li Dhazi wird im Dezember in Peking seine erste wichtige Galerieausstellung eröffnen. Eines seiner jüngsten Bilder zeigt nichts weiter als eine Hand, die ein Porträtfoto hält. Der Daumen verdeckt dabei das Gesicht der abgelichteten Person. Dass Li Dhazi sich in seinen Arbeiten mit An- und Abwesenheit und dem Verlust von inneren Bildern befasst, hat wohl mit der existentiellen Erfahrung des frühen Todes seiner Eltern zu tun. Auch ist für den Buddhisten alles Fixierte nur fauler Trug. Ihm setzt er die Lehre der Leere entgegen. Ein Künstler auf den Spuren der Subjektivität.

Die Atelierrundfahrt endet spät abends im Osten Pekings, bei dem Maler, Fotografen und Aktionskünstler Lao Li. Der 40- Jährige erzählt von einer unglaublichen Aktion 2009, anlässlich der Asian Contemporary Art Fair in New York. Ohne polizeiliche Genehmigung inszenierte er den Aufmarsch asiatischer Fake-Soldaten in nordkoreanischer Uniform, die sich am Pier 93 in Manhattan in Bewegung setzten und sich zum Washington-Denkmal in der Wall Street aufmachten. Die von der Polizei umringte und von Helikoptern überflogene Division löste sich in Wohlgefallen auf, als sie sich schließlich zum friedlichen Gruppenfoto aufstellte. Der Geist der Freundschaft, die Aufhebung der Hierarchien, die Grenzüberschreitung zwischen Ästhetik und Politik, damit befassen sich Lis Werke.

Kunst hat in China immer auch mit Strategie zu tun, jedenfalls sobald sie von der offiziellen Linie abweicht. Vor der Eröffnung der letzten Schanghai-Biennale wartete ein Künstler mit der Vollendung seines Werks einfach, bis die Zensoren abgezogen waren. Nicht alles ist in China möglich, aber mehr, als im Westen angenommen wird.

Heinz-Norbert Jocks

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