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Kunsttheorie: Nur die Wurst hat zwei

Die Welt zittert um Harry Potters Schicksal. Aber wozu braucht die Kunst überhaupt ein Ende?

Der schlimmste Schlussverräter? Wolfgang Neuss. Am 16. Januar 1962 gab der Kabarettist im Berliner "Abend" folgende Anzeige auf: "Ratschlag für morgen: Nicht zu Hause bleiben, denn was soll’s: Der Halstuchmörder ist Dieter Borsche. Also Mittwoch abend ins Kino." Unterzeichnet war der Text mit "Genosse Münchhausen". Neuss spottete damals über Fernsehdeutschland, das millionenfach über den Täter im Durbridge-Krimi "Das Halstuch" spekulierte. Und warb damit nebenbei für den eigenen Kinofilm. Titel: "Genosse Münchhausen" natürlich.

Und wie kriegt man die Leute heute ins Kino? Sicher nicht, indem man bei Krimi-Handlungen das "whodunit" verrät. Ansonsten aber kann die häufig geäußerte Mahnung, den Filmschluss nicht zu verraten, ganz schön auf die Nerven gehen. Manchmal schreiben Regisseure sie sogar explizit ins Presseheft.

Neue Filme sind Uraufführungen. Kein Mensch verlangt von einem Theaterkritiker, dass er den Schluss eines neuen Stücks nicht verraten darf. Und in Sachen Literatur muss es schon um eine so menschheitsrelevante Sorge wie das Schicksal des Harry Potter gehen, damit derlei Widerspiegelungsskrupel ernsthaft erörtert werden. Manche Filme lassen sich überhaupt erst im Lichte ihrer Auflösung zuverlässig beurteilen. Dann ist es allerdings fair, den Leser zu warnen, dass man das Geschenk schon mal auspacken musste.

Kritik ist Auseinandersetzung mit einem Werk in seiner Gänze. Der Zugriff muss frei bleiben. Wer dem Leser ohne Not den Spaß verdirbt, wird sowieso bestraft: durch den subtilen Boykott des Nichtmehrgelesenseins. Der Coup des Wolfgang Neuss bleibt legendär – aber in Sachen Eigenfilmwerbung ging er damals eindeutig nach hinten los.

Die schönsten Filme sind ohnehin die, die ihr Geheimnis bewahren, ob man ihr Ende verrät oder nicht. Nie werden wir erfahren, was Bill Murray Scarlett Johansson am Schluss von "Lost in Translation" ins Ohr flüstert. Und so hört diese zarte Liebe, erfunden von Sofia Coppola, auch niemals auf. Jan Schulz-Ojala


1949 schrieb Raymond Chandler in seinen "beiläufigen Anmerkungen zum Kriminalroman", dass es zur Grundtechnik des Kriminalromans gehöre, ihn so anzulegen, "daß der Leser, den notwendigen Scharfsinn vorausgesetzt, das Buch an einem bestimmten Punkt der Handlung zuklappen und die Lösung in ihren wesentlichen Zügen selber darlegen könnte". Die Praxis der Chandler-Lektüre sieht anders aus. Selbst der scharfsinnigste Leser hat Mühe, den Plot von Romanen wie "The Big Sleep" oder "The Long Good-Bye" nachzuvollziehen, geschweige denn, dass es möglich wäre, eine Lösung des Falles herbeizuführen.

Das Schöne ist: Bei Chandler macht einem das nichts aus. Je wahnwitziger die Plotkonstruktion, je knatternder die Handlungsstränge, desto melancholischer Chandlers Held Philip Marlowe, desto atmosphärisch dichter die Ausblicke auf die Verdorbenheit der Gesellschaft und desto extravaganter die berühmten Vergleiche, über die Chandler sich auch selbst lustig machen konnte, als er in "The Long Good-Bye" einen Schriftsteller notieren lässt: "Schriftsteller. Immer muß alles 'wie' sein. Mein Kopf ist so schlapp und weich wie Schlagsahne, aber nicht so süß". Chandlers Romane liest man ihres lakonischen Stils, der Haltung ihrer Hauptfigur, der knappen Dialoge und eben der schillernden Vergleiche wegen, und nie weil man unbedingt wissen will, wer der Mörder ist.

Und mochte Chandler zwar theoretisch den Kriminalroman durchdrungen haben, in der Praxis sah das vermutlich auch für ihn selbst etwas anders aus. Als beim Filmdreh zu "The Big Sleep" Regisseur Howard Hawks und Marlowe-Darsteller Humphrey Bogart über die Frage in Streit gerieten, ob eine der Nebenfiguren nun ermordet worden sei oder Selbstmord begangen habe, und sie sich bei Chandler erkundigten, musste dieser eingestehen: "Verdammt nochmal, ich wusste es selber nicht". Gerrit Bartels


Das Wirkliche, erklärte er 1960 in einem Interview, sei von dem Moment an, in dem es ihn inspiriere, sein Feind Nummer eins. Kausalität, Wahrscheinlichkeit, Plausibilität – Michelangelo Antonioni war bereit, alles, was die Konvention im Namen einer erzählerischen Schlüssigkeit aufzubieten hat, der Logik eines inneren Realismus zu opfern. Wenn er in seinen Filmen A sagte, fühlte er sich keineswegs verpflichtet, auch B zu sagen. So schenkte er dem Wort von der Auflösung in der Kunst des 20. Jahrhunderts seinen vielleicht tiefsten Doppelsinn. Als er 1960 in Cannes "L’avventura" (Die mit der Liebe spielen) präsentierte, lachte und buhte das Publikum ihn aus – und er erhielt nach einer Intervention von 37 Schriftstellern und Künstlern, unter ihnen Roberto Rossellini, den Spezialpreis der Jury.

Das vermeintlich zentrale Liebespaar, das auf einer Felsinsel in Streit gerät, woraufhin die Frau verschwindet, verloren geht oder sogar umgebracht wird, gerät aus dem Fokus des Geschehens. Weder das mögliche Opfer wird jemals gefunden noch geklärt, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt. Ja, die ganze Suche nach der Verschwundenen verdunstet, als wäre nichts gewesen. Dabei lag Antonioni nichts ferner als – wie es so schön heißt – mit den Erwartungen der Zuschauer zu spielen. Er wollte zeigen, dass kein Bild von der äußeren Welt so scharf sein kann, dass es nicht von einem inneren überlagert werden müsste. Sechs Jahre später, inspiriert von Julio Cortázars Kurzgeschichte "Teufelsgeifer", machte er in "Blow-Up" die Probe aufs Exempel. Die Fotografie, die sein Protagonist vergrößert und vergrößert, weil er darauf Spuren eines Verbrechens zu entdecken meint, gibt unterm Mikroskop ihr Geheimnis erst recht nicht preis. Das ist nicht einmal das Privileg des Bildes: Auch vom Ton zum Rauschen ist es nur ein Schritt. Gregor Dotzauer

Zwei- bis dreimal Strophe und Refrain, eine Brücke vielleicht, dann ist Schluss. Schnell leben, jung sterben – lange galt diese Maxime nicht nur für Aspiranten des Rock’n’Roll-Olymps, sie wurde der Gattung auch zum Produktionsprinzip: Ein Hit hatte mit 45 Umdrehungen in der Minute zu rotieren und war rasch einem schlüssigen Ende zuzuführen. Schon rein physikalisch gebot das Sieben-Zoll-Format der Vinyl-Single Eile: Mehr als vier, maximal fünf Minuten waren auch bei engster Rillenführung nicht unterzubringen. Wer danach nicht fertig war, mochte live Großes vollbringen, im Studio wurde er gnadenlos abgewürgt. Bestes Beispiel: "These Boots Are Made for Walkin", eingespielt 1966. Nach knapp drei Minuten Strophe und Refrain ruft Nancy Sinatra "Are you ready, boots? Start walking!", eine fulminante Bläsersektion setzt ein, der Song nimmt Fahrt auf – und versickert. Binnen zweier Takte sinken die Regler auf Null. Vier Jahrzehnte und viele Technologiesprünge später: Generationen von Musikern haben versucht, den Popsong zum Hörspiel aufzublasen (Beatles), zur Experimentalsymphonie (Pink Floyd) und zur Operette (Queen). Wirklich geändert aber hat sich nichts. Nach wie vor sind die wenigsten Popsongs länger als vier Minuten, und obwohl die Längenbeschränkung mit der CD teilweise und mit dem mp3-Format gänzlich fiel, greifen Produzenten immer noch gerne zum Regler, wenn ihnen kein besserer Schluss einfällt. Schnell spielen, früh enden, das hat sich eingebrannt in den Formenkanon des Pop. Und wohin Nancy Sinatras Stiefel marschierten, als die Regler stillstanden, wird auch YouTube nicht mehr herausfinden.Jens Mühling

Der alte Maler Frenhofer versucht sich seit mehr als einem Jahrzehnt an einem Meisterwerk, das kein Sterblicher je zu Gesicht bekommen hat. Es soll das Meisterwerk der Portraitkunst schlechthin werden. Doch Frenhofer ist unzufrieden und übermalt sein Bildnis weiblicher Schönheit ein ums andere Mal. Als es ihm schließlich vollendet dünkt und er zwei Kollegen ins Atelier bittet, vermögen sie außer einem Fuß nichts als ein Gewirr von Farben und Linien zu erkennen. Frenhofer begeht verzweifelt Selbstmord.

Die Erzählung "Das unbekannte Meisterwerk" schrieb Honoré de Balzac bereits 1831 – weit vor dem Siegeszug der Moderne, deren avancierteste Vertreter das unerkennbare Bild zum Programm erhoben. Frenhofer wurde zum literarischen Vorläufer von Malern wie Paul Cézanne, auf dessen – wiewohl gegenständlichen – Bildern die Zeitgenossen gleichfalls nichts mehr zu erkennen meinten.

Picasso, dessen "Demoiselles d’Avignon" von 1907 wie ein Hohn auf das frenhofersche Ideal des perfekten weiblichen Abbilds erscheinen, erhielt von seinem Händler Vollard 1927 pikanterweise den Auftrag, eine Neuausgabe der Balzacschen Novelle zu illustrieren. Das Unvollendete und augenscheinlich Unvollendbare, das Frenhofer in die Verzweiflung getrieben hatte, genoss mittlerweile die Anerkennung großer Kunst. Und wie erst im Falle eines Jackson Pollock, dessen Bilder keinen Gegenstand, ja nicht einmal Zentrum und Abschluss mehr besitzen, sondern Ausschnitt zu sein scheinen aus einem entgrenzten Bildkosmos! Balzacs tragischer Held hat zu früh gelebt, um sein Scheitern als wahre Kunst gefeiert zu sehen. Bernhard Schulz

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