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Kultur: Kurz vor dem Bruderkuss

Martin Walser auf der Couch bei Gregor Gysi

Zum ästhetischen Zierrat der Achtziger- Jahre zählen der rote Plüschteppich, der Clubsessel und das Aquarium. Aus diesen Elementen hat das Deutsche Theater Berlin Gregor Gysi ein Studio gebaut, in dem er, immer wieder sonntags, zur Sprechstunde bittet. Gestern nahm Martin Walser in Gysis Goldfischwelt Platz. Das Gespräch war kurzweiliger als vorangegangene Matineen, die im Gutgemeinten zu versickern drohten. Walser erzählte, wie er zum ersten Mal den „väterlichen“ Wörterbaum schüttelte und später mit den Früchten vor die Scharfrichter der Gruppe 47 trat. Gysi kam hier nicht immer mit, auch ließ er es bisweilen an frühbundesrepublikanischem Basiswissen fehlen.

Auf politisch sicherem Gelände war der Moderator erst wieder bei Walsers „Skandalen“. Lange kreiste das Gespräch um das korrekte Verfertigen einer Sonntagsrede. Sind Schriftsteller für das politische Fortleben der Begriffe – „Moralkeule Auschwitz“ – verantwortlich, die sie in die Welt setzten? Wie so vielen Interviewer vor ihm, gelang es auch Gysi nicht, Walser hier auf einen klaren Begriff zu bringen. Und mit dem eigenwilligen Rückblick auf sein Buch „Tod eines Kritikers“ sorgte Walser für Erheiterung: Noch heute wundert er sich, dass Reich-Ranicki nicht eitel-stolz gewesen sei, dass er ihm eine solche „sittlich-moralische und sexuelle“ Megaexistenz angedichtet habe.

Walser wiederholte zur Freude des Moderators immerhin seine Kritik am Irak-Krieg. Gysi soufflierte eifrig, und beide berauschten sich kurrzeitig so sehr an Schröders „Nein“, dass man schon fürchtete, es komme gleich zum offenen Bruderkuss. Walser schien mit sich und der Welt versöhnt. Alle politischen Fragen waren beantwortet –nur die letzten Fragen des Literaturbetriebs vergaß der diskrete Moderator. Unlängst hat eine frühere Geliebte Walsers ein Buch über die Liaison mit einem Großschriftsteller namens Bleibtreu veröffentlicht. Ist M. W. der Herr „Bleibtreu“ der deutschen Nachkriegsliteratur?

Stephan Schlak

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