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Hier lass dich nieder. Das Lesezentrum im Bücherkubus der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek.

© ZB

Lage der Bibliotheken: Speicherstadt des Wissens

Bücher im digitalen Zeitalter: Wie unsere Bibliotheken zu Zentren der Geselligkeit werden können.

Wenn der Direktor der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek von seinem Arbeitszimmer im obersten Stock des historischen Schlossgebäudes in den Rokokosaal hinuntersteigt, in dem der Bibliotheksverband vor wenigen Tagen seinen Bericht zur Lage der Bibliotheken vorstellte, dann macht er keinen Hehl aus dem Ereignis, dem der kostbare Ort beinahe zum Opfer gefallen wäre.

Nüchtern weist Michael Knoche auf die Brandflecken in den Fichtenbohlen hin – so weit es ging, hat man bei der Restaurierung die Originalsubstanz zu bewahren versucht. Die Bücher der ersten und zweiten Galerie, immerhin 30 000, die in der Brandnacht des 2. September 2004 vor den Flammen geborgen werden konnten, sind wieder in die Regale eingestellt worden. Nur auf der dritten Galerie, im Stiegengewirr eines schwer zugänglichen Dachstuhls, hatte der Brand alles vernichtet: eine Sammlung alter Lutherbibeln, handschriftliche Musikalien Anna Amalias, die Erstausgabe von Jean Pauls Schriften, die man nun Band für Band antiquarisch zurückzukaufen sucht.

Dort oben unter den Sparren sieht es inzwischen anders aus. Moderne, mit PC, Lese- und Blätterhilfen und breiten Ablageflächen ausgestattete, im Kreis gruppierte Arbeitsplätze warten auf bevorzugte Benutzer. Im „Zentrum für das alte Buch“, wie der kleine Lesesaal heißt, dürfen all jene forschen, die sich die seltensten, kostbarsten Exemplare der Sammlung zum Studienobjekt erkoren haben. Neben dem PC liegt immer auch ein Paar Handschuhe. Und wenn der Blick von den bleibedruckten Seiten abschweift, nimmt er auch einen mächtigen, unter Glas gestellten verkohlten Holzrest wahr: stummer Zeuge der Gefahr, die jedes überlieferte Kulturgut bedroht – ob es verbrennt, einstürzt oder im Dunkel mangelhaft ausgestatteter Archive vor sich hin rottet.

Der Rokokosaal ist für Touristen das begehrteste Weimarer Besuchsziel. Der Einlass ist streng limitiert: 90 000 sind es jährlich, die Zahl der Anfragen ist sechsmal so groß. „Wo alle Welt sich mehr und mehr transitorisch bewegt, wächst das Bedürfnis, etwas Gewachsenes zu sehen, einen Ort der Muße und Sammlung“, erklärt Knoche den Andrang. Dennoch lässt er seine Führungen lieber im neuen Studienzentrum unterhalb des alten Stammgebäudes beginnen. Ein unterirdischer Verbindungsgang führt an den Tiefenmagazinen vorbei, in denen gut 400 000 Bände für den schnellen Abruf eingelagert sind, sowie an der umfangreichen Zeitschriftenabteilung und der „Romanbibliothek“ für Gegenwartsliteratur.

Wegen seiner architektonischen Form, die sich kongenial ins historische Ensemble am Weimarer Ilmpark einfügt, bezeichnet Knoche das neue Studienzentrum gern als Bücherkubus; einem Borges hätte nicht nur der Name, sondern auch das Gebäude gefallen: ein dreistöckig nach oben ragender Quader mit Galerien auf jeder Etage, der seine Helligkeit nicht nur durch Kunstlicht, sondern auch durch das von oben einfallende Tageslicht gewinnt. Als würden die Sonnenstrahlen durch die Bücher eine neue Aura gewinnen.

Auch wenn die Dimensionen im Vergleich zum Grimm-Zentrum der Berliner Humboldt-Universität auf bescheidenerem Niveau bleiben, zeigt der Kubus doch, wie die Bibliothek der Zukunft aussehen könnte. Bis 31. Oktober findet mit über 3000 Veranstaltungen hierzulande die Woche der Bibliotheken statt. Auch darum geht es: Wie sie im Internetzeitalter zu neuen Zentren der Geselligkeit werden könnten. Einer anderen Geselligkeit als der des Rokoko, eine, die Sammlung, Wissenszugriff, -erwerb und -produktion sowie Austausch und Gespräch möglich macht. Kein Facebook, kein Google, kein iPhone können das bieten: die reale Präsenz, derer wir als Wesen aus Fleisch und Blut bedürfen. So gesehen, kann man den Bibliotheken eine blühende Zukunft voraussagen: als Treffpunkte virtuellen und realen Wissens, als Relaisstationen zwischen Netz und Buch, Regal und Bildschirmoberfläche. Zum Teil ist das schon Realität, doch fehlt gerade in Deutschland mit seinen dezentralisierten Strukturen eine Koordination und ein gebündeltes öffentliches Bewusstsein, um die Bibliotheken gleichermaßen ins digitale Zeitalter zu überführen.

Allein die Zahlen widersprechen dem Verdacht, Bibliotheken seien Relikte einer vergangenen Zeit. Mehr denn je werden sie frequentiert: Der deutsche Bibliotheksverband verzeichnet deutschlandweit 200 Millionen Besuche mit 460 Millionen Medienentleihungen. Das ist gegenüber dem Jahr 2000 eine Nachfragesteigerung von 22 Prozent – bei stagnierenden Etats. Pro Kopf fließen jährlich aber nur 8 Euro in Bibliotheken; im internationalen Vergleich wird das kaum ihrer Bedeutung als künftigen Wissenszentren gerecht: In Finnland fließen 54 Euro, in den USA immerhin 27 Euro pro Einwohner in das Bibliothekssystem.

„Die alten Bücher werden selten werden; ihr Neudruck setzt intelligente Planungen voraus“, hatte Ernst Jünger 1944 angesichts der zerstörten deutschen Städte in sein Tagebuch notiert. Michael Knoche würde heute von Digitalisierung sprechen. Er weiß aber auch: „Sie ist der wunde Punkt bei uns.“ Mit „uns“ meint er nicht die Anna-Amalia-Bibliothek, die schon über 10 000 Bände digitalisiert und frei zugänglich ins Netz gestellt hat (auch wenn dies nur einem Prozent der Gesamtbestände entspricht). Er meint die fehlende Abstimmung, wer was wofür und zu welchen Konditionen digitalisiert und online zugänglich macht. Digitalisierung ist das Modewort der Bibliothekare, doch es gibt kaum übergreifende Koordination.

So tut jede Bibliothek mehr oder weniger, was sie für richtig hält. Am weitesten ging die Bayerische Staatsbibliothek, die mithilfe von Google all ihre Bestände digitalisieren und ins Netz stellen ließ. Bibliotheken wie die in Göttingen, Hamburg oder Wolfenbüttel sind dank öffentlicher Zuwendungen schon weit vorangeschritten. Andere, wie die Berliner Staatsbibliothek, sind wegen der Knappheit ihrer Ressourcen im Hintertreffen.

Da es kein „Centre national du livre“ wie in Frankreich gibt, treibt der Wildwuchs Blüten. „Wenn wir jetzt nicht handeln“, sagt auch Marion Ziller, Vorsitzende des deutschen Bibliotheksverbandes, „hinken wir ewig der internationalen Entwicklung hinterher. Bei stagnierenden Etats sind die für Digitalisierung und laufenden Bibliotheksbetrieb nötigen Gelder gar nicht aufzubringen.“

Privates Sponsoring und Stiftungszuwendungen mögen im Einzelnen helfen. Vor allem aber muss die Bibliothek als die meistbesuchte kulturelle Institution schlechthin in der öffentlichen Wahrnehmung verankert werden. 200 Millionen Jahresbesuche, auf 10 855 Bibliotheken verteilt, das rangiert laut Ziller „weit vor Kino, Museum oder Theater“. Mag sein, dass die Bibliothek zu sehr als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird, ohne dass der gewaltige logistische Aufwand bemerkt würde, den sie erfordert.

Ihre Bedeutung als Speicher des kulturellen Gedächtnisses und Fabrik von Wissenssynthesen wird von der Architektur immerhin gewürdigt, in Neubauten wie in Berlin, dem Weimarer Kubus oder der Universitätsbibliothek des Weimarer Bauhauses im Stil eines durchsichtigen Glaspalasts. An solchen Orten sind Sammlungen im doppelten Wortsinn möglich. Die zwischen Wi-Fi-kompatiblem Beton, Stahl und Glas integrierten Holztreppen und -böden schaffen eine den kostbaren Buchseiten und der Konzentration ihres Lesers angemessene Atmosphäre. Wer einmal in einer Bibliothek fündig geworden ist, wird sie immer wieder gern aufsuchen.

Der Bericht zur Lage der Bibliotheken 2010 findet sich unter www.bibliotheksverband.de. Veranstaltungstermine unter www.treffpunkt-bibliothek.de.

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