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Kultur: Lagerkoller

Das "Labor der Moderne", als das das intellektuelle und künstlerische Berlin sich gern begriff, verödet nicht mit einem Schlag. Nicht im Januar 1933.

Das "Labor der Moderne", als das das intellektuelle und künstlerische Berlin sich gern begriff, verödet nicht mit einem Schlag. Nicht im Januar 1933. Den Umschwung diagnostiziert der Kritiker Herbert Ihering bereits 1930 und sieht die "neue Lethargie, die neue Sentimentalität, die neue Reaktion" heraufzeihen. Noch ein Jahr zuvor erlebte Deutschland den Höhepunkt einer kulturellen Blüte, die 1918 begonnen hatte. "1929 ist ... das letzte Jahr vor 1933", heißt es dramatisch im Katalog zur gestern im Literaturhaus eröffneten Ausstellung "1929 - Ein Jahr im Fokus seiner Zeit". Neben die üblichen Vitrinen und Fotos sind Rauminszenierungen, Grafiken, Filmplakate, Kopfhörer, ein Fernseher und ein Touchscreen getreten.

Unangefochten bleibt gleichwohl die zentrale Rolle der Literatur. So selbstverständlich erscheint sie den Ausstellungsmachern, dass sie sie gar nicht eigenes erwähnen. Allein Schriftsteller und ihre Werke, meist Romane, sowie deren medialen Abkömmlinge stehen im Mittelpunkt der opulenten Schau. Wen der nicht eben kleinliche Titel auf eine umfassende Kulturgeschichte hoffen lässt, ähnlich etwa Hans Ulrich Gumbrechts faszinierenden Kurzessays zu Bars, Boxen, Fahrstuhl und Tanz in "1926", der wird enttäuscht werden.

Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" ist ein Höhepunkt des Jahres 1929. Zur Baustelle Alexanderplatz, die das fünfte Buch in einer berühmten Collage ("Rumm rum wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme") einfängt, zeigt die Ausstellung die Kolossalstatue Berolina und die ebenso kolossalen Planungen von Stadtbaurat Martin Wagner. Danach hätten die geplanten Neubauten auf dem Alexanderplatz bereits 1955 wieder abgerissen werden können. Der Traum von der Verflüssigung der Architektur zerplatzt im Börsencrash, über dessen Folgen für die Weltwirtschaft man sich am Monitor informieren kann.

Döblins Montageroman interessiert den jungen Rundfunk. Zusammen mit dem Autor, den ein Foto beim Zusammenbauen eines Radios zeigt, erarbeitet Alfred Braun eine Hörspielfassung. Sie wird im Oktober 1930 angekündigt, aber nach dem triumphalen Erfolg der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen am 14. September nicht mehr ausgestrahlt.

Braun ist es auch, der im Dezember 1929 die Verleihung des Nobelpreises an Thomas Mann in den Äther schickt. Versteckt hinter einer Säule flüstert er in das Mikrofon, die "frackgewohnte Erscheinung" des Literaten schreite auf den schwedischen König zu.

Intensiver Grenzverkehr herrscht auch zwischen Literatur und dem sich 1929 durchsetzenden Tonfilm. Von den neuen Medien versprechen sich die Schriftsteller erweiterte Wirkungsmöglichkeiten, und ihre Technik fordert sie ästhetisch heraus. Dass dabei als erstes die Autonomie unter die Räder kommt, erlebt Heinrich Mann bei der Bearbeitung seines Romans "Professor Unrat": Völlig zu Recht heißt der auf einem Fernseher zu betrachtende Film "Der blaue Engel". Thomas Mann begibt sich am 22. Januar 1929 vor die Kamera, um seine Festrede zum 200. Geburtstag Lessings zu wiederholen. In einer improvisierten Vorrede, die bisher unbekannt war und deren Entdeckung als kleine Sensation gelten darf, vergegenwärtigt er sich das "Phantastische und Exzentrische" seiner Situation: "Ich spreche zu einem zukünftigen Publikum in die Zeit hinein". Verfilmt wird auch Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues". Ende 1929 sind von dem Buch, bereits 900 000 Exemplare verkauft.

Die Beziehungen von Döblin, Mann und Remarque zu Rundfunk, Tonfilm und bildender Kunst bilden ein basso continuo der Ausstellung. Sollte sich der im Katalog angekündigte "Schwellencharakter des Jahres" auf diese Anfänge der Medienkonkurrenz beziehen? Nein, die Macher verstehen 1929 politisch als "Vorabend der deutschen Katastrophe". Aber diese prophetische Last schultert ihre Schau nur in zwei Abschnitten, in denen sie die Beschränkung auf die literarische Hochkultur aufgibt: Im ersten erzählt sie von der Gründung der "Linkskurve" durch den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und platziert daneben ein Heft der "Kolonne", mit der sich junge Künstler, darunter Günter Eich, von Politik und Neuer Sachlichkeit abgrenzen. Lagerbildung und Abkehr von der Welt, so wird offenkundig, gehören zusammen.

Komplett wäre das Bild jedoch erst mit dem vermittelnden "Scheinwerfer", den Hannes Küpper in Essen herausgibt. Die Zeitschrift fehlt, weil die Ausstellung fast nur auf Berlin blickt. Diese doppelte Beschränkung auf die literarische und die Reichshauptstadt ist so unverständlich wie bedauerlich. Im Reich und an aktuellen Kunstformen wäre die Signatur der Zeit leichter abzulesen gewesen. So aber fehlen die Gründung des NS-Kampfbunds für Deutsche Künstler in München und, viel wichtiger, die Publizistik, in der sich viele Autoren regelmäßig äußerten. Selbst Kabarett, Revue und Varieté bleiben wenig prägnant.

Greifbar wird der Schwellencharakter von 1929 auch im Abschnitt über das Theater - aber charakteristischerweise nicht in den Schilderungen von Bertolt Brechts "Lindbergflug" oder Marieluise Fleißers "Pionieren in Ingolstadt", sondern anhand heute vergessener Zeitstücke, die die Verbote von Abtreibung und Homosexualität anprangern. Sie und die von ihnen erregten Skandale zeigen die zunehmende Mobilmachung der Gesellschaft. Experimente, auch Formexperimente gelten nun als überflüssig. Das "Labor der Moderne" schließt seine Tore.

Jörg Plath

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