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Massenexodus. Im August 1991 stürmten 20 000 Menschen die „Vlora“, den einzigen albanischen Ozeandampfer, und zwangen den Kapitän, Kurs auf Italien zu nehmen. Dort wurden sie interniert und in ihr krisengeschütteltes Land zurückgeschickt. Foto: dpa/pa

© picture alliance / Arcieri/ROPI

Lampedusa, Albanien und das Meer: Die Tränen der Adria

Utopie und Wirklichkeit: In Tirana diskutierten Schriftsteller über das Mittelmeer als Symbol der Trennung - und der Hoffnung.

Das Mittelmeer hat viele Seiten. Wäre es ein Buch, dann wäre es jetzt eine Anklageschrift. Eine Ansammlung anonymen Grauens: Die Flüchtlingshavarie vor dem italienischen Eiland Lampedusa mit Hunderten von Toten war die erste nicht und wird auch nicht die letzte sein, so wie Europa sich abschottet im Süden. So wie sich in diesen überwachten Gewässern Odysseen abspielen, die nie jemand besingen wird. Die keine Rückkehr kennen, keine mythische Überhöhung.

„Der Traum vom Meer als Ausgangstor zum Kennenlernen des Unendlichen kollidiert mit der Wirklichkeit eines Meeres, in dem man ertrinkt, und zerbricht daran.“ Diesen Satz schreibt der albanische Autor Fatos Lubonja, und er erinnert damit an eine Tragödie, die sich im März 1997 auf der Adria zutrug. In Albanien herrschte Chaos. 120 Flüchtlinge wollten mit einem kleinen Schiff nach Italien übersetzen. Sie wurden von einem italienischen Kriegsschiff abgedrängt, 81 Menschen, darunter viele Kinder, fanden im Wasser den Tod.

Im August 1991, sechs Jahre nach dem Tod des Diktators Enver Hodscha, das kommunistische System war endlich zusammengebrochen, stürmten 20 000 Menschen die „Vlora“, den einzigen albanischen Ozeandampfer, und zwangen den Kapitän, Kurs auf Italien zu nehmen. Dort wurden sie interniert und wieder zurückgeschickt. Der Massenexodus scheiterte. Auch diese Geschichte holte Fatos Lubonja, Hauptredner bei dem Schriftstellertreffen „Das Weiße Meer“ in Tirana aus der Vergessenheit zurück. Es ist eine Reihe, die das Literarische Colloquium Berlin und die Allianz Kulturstiftung organisieren, rund um den Mediterran, der im Arabischen und im Türkischen „weißes Meer“ genannt wird.

Die erste Station des reisenden Literaturfestivals war Triest, die zweite jetzt in der albanischen Hauptstadt. Das ist schon mal verdienstvoll, denn bei dem Thema Mittelmeer-Literaturen und „Erinnerungsraum Europa“ denkt kaum jemand an das kleine Land mit seinen 3,2 Millionen Einwohnern, die 40 Jahre lang unter dem fürchterlichsten, bizarrsten Regime gelitten haben, das Kommunismus und Nationalismus in Europa hervorbrachten. Fatos Lubonja war 17 Jahre in Hodschas Gefängnissen und Arbeitslagern eingesperrt.

In Albanien galt das Meer in den Hodscha-Jahren als "feindliches Territorium"

Daran erinnert auf dem großen Boulevard von Tirana eine Denkmalsinstallation, die Lubonja entworfen hat – mit einem Stück Berliner Mauer vom Potsdamer Platz. Er sagt: „Unsere Beziehung zum Meer war auf das sichere Ufer beschränkt.“ Und: „Das Meer vor der albanischen Küste wurde mehr und mehr zum Synonym für feindliches Territorium.“ Der wahnsinnige Diktator hatte seinem Volk die Vision eines sowjetischen und amerikanischen Angriffs von der See aus eingetrichtert und die Küste – wie das gesamte Land – mit hunderttausenden pilzförmiger Ein-Mann-Bunker überzogen, die man immer noch überall antrifft.

Albanien ist ein Bergland, zumal im wilden Norden, wo teilweise bis heute die Gesetze des Kanun und der Blutrache herrschen. Das „Land der Skipetaren“, wie es bei Karl May hieß, hat einen schlechten Ruf; Korruption, Mafia, Menschen- und Drogenhandel prägen dieses Bild. Edi Rama, der neue Ministerpräsident und für viele Albaner ein Hoffungsträger, hielt Ende September vor den Vereinten Nationen in New York seine erste große internationale Rede. Er bat mit Galgenhumor darum, seine Heimat nicht allein nach allfälligen Klischees in US-Actionfilmen zu beurteilen: „Vor diesem Albanien fürchte ich mich selbst ein bisschen.“

Das „Weiße Meer“ hat unendlich viele Kapitel. In Albanien aber immer nur eines: Lindita Arapi, eine in Deutschland lebende Journalistin und Autorin, sieht im Mittelmeer ein Symbol der Trennung, vielleicht der Hoffnung. Der Schriftsteller Arian Leka spricht vom Meer zuerst als Hindernis und dann als Möglichkeit. Die Lyrikerin Luljeta Lleshanaku sieht im Meer eine Illusion. Und dann doch: Zukunft, Hoffnung. Wie oft das Wort bei dem Treffen in Tirana fällt, Hoffnung. Und wie sehr Albanien da afrikanisch wirkt, ein Land der Auswanderer.

Aus nördlicher Perspektive verbreitet das Mediterrane duftige Aromen. Hans-Ulrich Treichel – sein Roman „Der Verlorene“ ist auf Albanisch erschienen – beschrieb in Tirana das „Mittelmeer als Sehnsuchtsort“. Die Realität hält der Vorstellung selten Stand, der Schriftsteller müsse sich sein Ziel stets schreibend erarbeiten. Ilma Rakusa, die Schweizer Schriftstellerin und Übersetzerin, ist aufgewachsen in Triest. Sie hat die Hafenstadt am Mittelmeer als Stadt von Welt erlebt, davon ist sie geprägt. Über das Meer kommen Menschen und Waren, das ergibt ein kosmopolitisches Klima.

Aber nicht, noch nicht in Albanien. Touristen trauen sich dort nicht hin, finden wenig vor, und die antiken Stätten wie in der Hafenstadt Durres haben unter dem jüngsten Bauboom gelitten. Sind die Albaner ein mediterranes Volk, haben sie eine Meereskultur? Solche Fragen haben sie selbst gestellt, die albanischen Intellektuellen, und das ist keinesfalls nur ein akademischer oder poetischer Zeitvertreib. Es ist eminent politisch.

Albaner reagieren gereizt bis alarmiert, wenn ihnen ethnische Zuschreibungen übergestülpt werden, zumal von serbischer Seite. Es geht dann immer gleich um Grenzen, Zugehörigkeit, um Sicherheit. Auf dem Balkan ist das Zündstoff, Kriegsmaterial: Bist du Feind oder bist du Nachbar?

Albanien, mit dem Rücken zum Meer, findet im europäischen Diskurs so gut wie nicht statt. Dabei enthält seine Sprache griechische, lateinische, italienische, türkische Spuren, wäre also idealtypisch multikulturell zu nennen. Gleiches gilt für das Verhältnis der Religionen. Hier leben Muslime, Katholiken, Griechisch-Orthodoxe recht friedlich miteinander.

Ein Ingenieur aus dem Publikum hat bei der Abschlussdiskussion mit den Autoren die Seelenlage seiner Landsleute vielleicht etwas zu hart, aber packend beschrieben: „Mnemosyne,die Muse der Erinnerung, weint in Albanien!“ Das spürt man in Tirana: Wie schwer die Erinnerung an den Totalitarismus fällt in einer ökonomisch und politisch immer noch prekären Situation. Was wir Aufarbeitung der Vergangenheit nennen, Austausch von Lebensgeschichten aus der DDR und der alten Bundesrepublik, setzt einen gewissen Wohlstand voraus. Für die weiter zurückgreifende Erinnerungskultur, den Umgang mit dem Nationalsozialismus gilt das erst recht.

Die Hodscha-Horrorjahre der kompletten Abschottung haben das europäische Erbe der Albaner weggedrückt, es muss erst wieder wachsen. In den Straßen von Tirana sieht man jetzt viele junge Menschen, überall haben Cafés und Bars eröffnet, man sitzt draußen bis spät in die Nacht, tanzt, trinkt, lärmt. Das Viertel, in dem sich Hodschas Wohnhaus befindet, eine Villa im Bauhausstil, macht einen ausgesprochen mediterranen Eindruck. Nur, was heißt das, mittelmeerisch? Der Westen hat an den Süden, den Balkan, bestimmte Erwartungen, verbunden mit gewachsenen Phobien, wie gegenüber dem Orient. Dem Wort nach ist auch dieser eine westliche Erfindung.

Chalid al Chamissi aus Kairo hat einen völlig anderen Blick aufs Wasser. In Ägypten spricht man vom „Ufer des Mittelmeers und vom Ufer des Nils“. Das ägyptische Meer ist der Nil. Noch etwas unterscheidet Chalid al Chamissi von den meisten seiner albanischen Kollegen, mit denen er in Tirana ins Gespräch kam. Seine Bücher („Im Taxi: Unterwegs in Kairo“ wurde bei uns als Bote der Arabellion gelesen) sind übersetzt, ins Deutsche, Englische, Französische, Italienische. Das nächste Treffen am „Weißen Meer“ soll im Frühjahr in Alexandria sein. In der Stadt der großen, verlorenen Bibliothek.

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